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Ich weiss nicht viel, sage ich, von meiner Familie, und ich zeige mit meinen Fingern, wie wenig ich weiss. Who knows much, sagt Dalibor, erzähl mir das, was du weisst.

Vor drei Wochen hat die Schwester meiner Mutter, meine Tante Icu, uns einen Brief geschrieben — und er ist offenbar angekommen, sagt Dalibor. Sie schreibt, sie müsse sich stundenlang anstellen, wenn sie ihre Rente abholt, und im Februar, als sie endlich an die Reihe gekommen sei, war ihre Rente noch einen Apfel wert. Äpfel habe sie zum Glück noch selber, in ihrer Vorratskammer, sie schreibe uns das nur, damit wir verstünden, wie viel das Geld noch wert sei, nämlich gar nichts, nicht einmal zum Arsch wischen könne man es gebrauchen, dafür sei das Papier zu hart. Und die Nullen hätten gar keinen Platz mehr auf den Scheinen. Es gäbe Leute, die würden sich mit Schlangestehen Geld oder besser das Essen verdienen. Sie würden sich anstellen und dann, wenn sie an die Reihe kämen, dem Meistbietenden den Platz übergeben, für drei Eier, ein Brot, was auch immer, und die, die ihr Geld auf die Art ein paar Stunden vorher abholen könnten, beeilten sich, es schnell wieder los zu werden, sie kauften irgendwas, auch das, was sie gar nicht brauchten, 10 Kilo Bouillon, Knöpfe, Wäscheklammern, ein bisschen Stoff, egal, Hauptsache, das Geld sei wieder weg. Geld sei also keins da, man müsse sich praktisch alles ohne organisieren, sie hätten noch genügend zu essen, aber kein Benzin, die Äcker würden wieder mit Pferden bestellt, kein Öl, keine Kohle, um zu heizen, und ausgerechnet jetzt sei es so kalt, sie müssten im Wald am Flussufer Holz sammeln, was verboten sei, aber wer kümmere sich in dieser Zeit um solche Verbote. Am Schlimmsten sei die Angst, dass die Männer eingezogen würden, Bela habe den Einmarschbefehl schon bekommen, Csaba auch (mein Cousin und der Mann meiner Cousine Csilla, sage ich), Bela sei bei einem Freund untergetaucht, gehe nicht mehr zur Arbeit, und Csaba, der sei über die Grenze geflüchtet, nach Ungarn, und Csilla erleide das Schicksal vieler Frauen, müsse jetzt, in dieser unglückseligen Zeit, mit Nichts für ihre Zwillinge sorgen, und sie selbst könne wenig helfen, der Piri sei scharf wie ein Wachhund und unversöhnlich wie ein schlechter Vater (und ich erzähle Dalibor Csillas Geschichte). Ansonsten, was solle man noch schreiben? es hiesse, die Milch werde teurer, dabei werde das Brot teurer, ja, die schönen Ablenkungsmanöver, sagt Dalibor, es gäbe viele Eltern, die könnten ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken, weil sie das Busücket nicht mehr bezahlen könnten, die Schulen seien halbleer, wir werden dumm, hat Tante Icu geschrieben, wenn wir es nicht schon sind.

Es trifft immer die Falschen, sagt Dalibor, fährt mit seinem Zeigefinger über mein Grübchen beim Hals, in zehn Jahren wird man mehr wissen, und dann ist es zu spät. Erkenntnisse, die nichts mehr bringen.

Wie meinst du das, frage ich.

Für all die Toten, für sie kommt jede Erkenntnis zu spät… aber du kannst froh sein, dass eure Stadt noch nicht geteilt ist wie viele andere Städte, It is evident, sagt Dalibor, dass man Städte, ein ganzes Land nicht nach Ethnien aufteilen kann, und wenn man dies tut, hat man den nackten Wahnsinn des Krieges. Und die demokratischen, westeuropäischen Politiker, die diese Aufteilungen zulassen, sich mit den kriegstreiberischen Nationalisten an einen Tisch setzen. Sag mir, warum nicht mit den Oppositionellen, die die demokratischen Werte suchen, tell me?

Wir nehmen Dalibor mit, Mitte Mai, ins Wohlgroth, weil wir hoffen, dass wir in unserem Lieblingscafe Arbeit für ihn finden, wo er zwar wenig oder fast nichts verdienen wird, aber wenigstens eine Arbeit hat, und wir versuchen ihm zu erklären, worum es geht, dass das Haus besetzt ist, mehrere Häuser, eine ehemalige Fabrik, dass etwa hundert Menschen da leben, von den Konzerten erzählen wir ihm, der Volxküche, es sei ein Versuch, sagen wir, die Dinge selber in die Hand zu nehmen, wir sprechen mit Händen und Füssen und Englisch und dem serbokroatischen Wörterbuch, Nomi und ich, wir spüren, dass wir eine Aufgabe haben, nämlich ein politisches Programm zu erklären, wir legen uns fürs Wohlgroth ins Zeug, ich vor allem, als müsste ich einen hiesigen, konservativen Politiker von dessen Wichtigkeit überzeugen, dabei tue ich das, was die meisten Politiker tun, die Dinge beschönigen (aber das fällt mir erst jetzt auf, im Nachhinein, dass ich mich im Grunde jedes Mal, wenn ich im Wohlgroth war, schutzlos fühlte, am ganzen Körper angreifbar, Angst hatte, dass jeden Moment etwas passieren könnte, ein Hund mich anfällt, zwei Hunde mich in die Enge treiben, ein Mensch mich mit hungrigem Blick fixiert, du siehst nicht so aus wie wir, was hast du hier zu suchen? aber da war der drängende Wunsch, einen Ort zu haben, der mich definiert), und als wir im Hauptbahnhof aus dem Zug steigen, bleibt Dalibor auf dem Perron stehen, er schaut durch uns hindurch, schaut in die Richtung, aus der wir eingefahren sind, dreht sich dann in die andere Richtung, ich mag diese Bahnhöfe nicht, die einen gefangen nehmen, sagt er, zu den Tauben, zum Perron, auf jeden Fall nicht zu uns, und Dalibor schaut sich die Überdachung des Bahnhofs an, die Bänke, die Gepäckwagen, die man mit Münzen füttern muss, er dreht seinen Kopf zu den kleinen, grauen Lautsprechern, die in bestimmten Abständen den Perron säumen und mir noch nie aufgefallen sind, it's better than sightseeing, sagt Dalibor lachend, hakt sich dann bei uns ein, and now, let's try to get a job!

Ein paar Stunden später schreien wir uns an im Keller, es ist unmöglich, brüllt Dalibor, und ich erinnere mich, dass ein grünes Licht über sein Gesicht zuckte, ich kann an so einem Ort nicht arbeiten. Warum hast du mir das nicht oben gesagt, im Cafe, schreie ich zurück, halte mein rechtes Ohr zu Dalibor, schaue zur Bühne, auf der ein Typ mit mehrfarbigem Haar tanzt, mit seinem Mikrofonständer, er presst seine Stimme, bis sich dicke Adern zeigen, an seinem Hals, weil ich es nicht glauben konnte, dass ihr davon überzeugt seid, ich könnte hier arbeiten, so Dalibor. Du würdest also lieber im Mondial arbeiten, schreie ich. Hundert Mal lieber, und Dalibor schreit fast so laut wie der Sänger, und ich, die Dalibor an der Hand fasst, ihn Richtung Ausgang zieht, das Konzert ist noch nicht fertig, sagt er, doch, antworte ich, für uns schon, und ich ziehe ihn die Treppe hoch, ich muss mit dir reden.