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Hör mal, warum sitzt du am Tisch, lässt dir alles erklären, sagst, du hättest schon im Service und im Buffet gearbeitet, fragst sogar, an welchen Tagen du arbeiten könntest, du fragst und lächelst, schaust dich um, und ich nehme an, dass es dir gefällt, du stellst dich dem Barkeeper vor, schaust auf die Gleise, man hätte einen schönen Ausblick von hier oben, sagst du, du machst mit dem Barkeeper ab, dass du nächste Woche probeweise ein paar Tage arbeiten würdest, und jetzt? (und ich fluche auf Ungarisch), ich versteh dich überhaupt nicht mehr, sage ich, werfe meine Hände in die Luft, und wir sitzen auf einem Sofa, im Innenhof, heute brennt kein Feuer, denke ich und sehe Mark, mit den Händen in den Hosentaschen, bei einer Gruppe stehend, mich beobachtend, Dalibor, der sich eine Zigarette anzündet, wer ist der Typ da drüben, fragt Dalibor, zieht an seiner Zigarette, is he your hero? und er zeigt mit der Zigarette Richtung Gruppe, zu Mark, ich habe keinen Helden, antworte ich und ärgere mich, dass ich ihm eine Antwort gegeben habe, aber du lenkst ab, sage ich (und es war der erste warme Maiabend, und einen Moment lang dachte ich daran, Dalibor zu erzählen, dass ich die Akazien liebe, den süssen, schweren Duft dieser winzigen Blüten, dass Akazienhonig mein Lieblingshonig ist, die helle Farbe, seine flüssige Konsistenz, aber ich habe es ihm nicht gesagt, dass der erste süsse Geschmack, an den ich mich erinnern kann, Akazienhonig ist, auf einer dicken Brotscheibe, die Mamika mir geschnitten hat), Dalibor, der sich auf dem Sofa zurücklehnt, dem Himmel Rauchzeichen schickt, dieser Ort ist schlecht für mich, sagt er, ich kann die Leute hier nicht ernst nehmen, das ist nicht gut, weder für sie noch für mich, und ich weiss auch nicht, wie ich dir das verständlich machen soll, danke für eure Hilfe. Dalibor, der mich jetzt anschaut, wo ist deine Schwester? mit ihrem Freund verschwunden, antworte ich. Und ihr kommt also oft her? fragt Dalibor, hält mir seine Zigarette hin, ziemlich oft, oft genug, um zu wissen, dass es hier ein paar nette Leute gibt, die etwas verändern wollen in der Gesellschaft.

Ich weiss nicht genau, worüber du dich ärgerst, sagt Dalibor. Wahrscheinlich nur darüber, dass du sagst, im Mondial wäre es besser, so meine Antwort.

Besser, weil ich arbeiten will, nur das. Ich will mir keine Gedanken machen über mögliche Gesellschaftsformen und dabei zusehen, wie die Hunde überall hinscheissen; ich will nicht wissen, ob es eine bessere Gesellschaft geben könnte, weil ich nicht daran glaube, but look, your hero is coming! Mark, der tatsächlich in unsere Richtung kommt, na, Ildi, wie geht's, sagt er, willst du mir deine Begleitung nicht vorstellen? den hab ich noch nie hier gesehen. Du wirst ihn auch nicht wieder sehen, antworte ich, er ist zum ersten und zum letzten Mal hier. Squat? aus dem Ausland? fragt Mark. Ja, und ich stelle die beiden einander vor. Wir sind grad am Aufbrechen, sage ich, will ihm sonst noch was zeigen von der Stadt. Was denn, die netten Gässchen in der Altstadt? oder die schönen Fenster des Grossmünsters? Nein, das Sihlwiesli, antworte ich, da, wo den Verbrechern früher der Kopf abgeschlagen wurde. Und Mark lacht, gegen seinen Willen, und ich schaue zu, wie Dalibor aufsteht, sich mit abwesendem Blick wegdreht, losgeht, Richtung Ausgang, und erst, als Mark: Dein Begleiter macht sich selbständig, sagt, realisiere ich, dass Dalibor weg ist.

Du kannst mir nicht erzählen, dass da nichts läuft, sagt Mark, schaut mich an, direkt, vergisst, seine Maske aufzusetzen, streckt seine Hand aus, du bist für mich… sagt Marks Mund, Mark, sage ich und berühre seine ausgestreckte Hand mit meinen Fingerspitzen, es geht nicht, ich fühle — nichts, willst du sagen, unterbricht mich Mark, nicht genug, so ich. Und ich, die aufsteht, sage, dass wir uns vielleicht einmal wiedersehen, dass es mir leid tue, und ich hätte es ihm schon früher sagen müssen, denke ich, ich hätte es dir früher sagen müssen, so ich, das Konzert ist zu Ende, und Mark nickt zu den Leuten, die aus dem Keller strömen, mit verschwitzten Gesichtern, Mark, der sich aufs Sofa fallen lässt, ich, immer noch vor ihm stehend, Mark, der seine Augen schliesst, sein Gesicht, das im nächsten Moment nass ist, du hättest gar nicht mit mir anfangen sollen, sagt er leise, du hast es damals schon gewusst, schon nach unserem ersten Mal (bei Mark zu Hause, in seiner Zweizimmerwohnung, an der befahrensten Strasse der Stadt, wo die Lastwagen und Autos von sechs Uhr früh bis Mitternacht mitten durch die Wohnung donnern), du bist aufgestanden, hast dich in die Küche gesetzt und hast geweint, ich hab dich beobachtet, sagt Mark, mit geschlossenen Augen, der Innenhof, der sich immer mehr füllt, ein Paar, das sich schmusend aufs Sofa wirft, ich gehe jetzt, vielleicht sehen wir uns mal, an der Uni, sage ich, und Mark, der jetzt seine Augen öffnet, ja, sagt er, geh endlich, ich weiss gar nicht, warum du immer noch hier stehst!

Und dann, dann bin ich mehrere Stunden gegangen, ich habe mich leicht gefühlt, warm, wärmer als die Luft, wahrscheinlich weil meine Schritte schnell waren, und die Uhren am Bahnhof zeigten mir, dass es spät war, nach zwei, und mir fielen die gefleckten Gehsteige auf, all die zertretenen Kaugummis, ein Taxifahrer, der über seinem Steuerrad eingenickt war, ist nicht viel los heute, sagte ein anderer, der an seiner Wagentür lehnte, rauchte, ist zu warm heute, und ich nickte, und ich war überzeugt, dass ich Dalibor einholen könnte, ich ging, ging immer schneller, vielleicht bin ich zwischendurch sogar gerannt, ich habe mich gefragt, was ich an dieser Stadt liebe, ein paar Orte, die in keinem Reiseführer vorkommen, ein Tramdepot, eine Allee mit riesigen Platanen, eine nackte Frauenstatue, die mitten auf einer kleinen Wiese steht, ein paar Ramschgeschäfte, die ich regelmässig mit Nomi aufsuche, die öffentlichen Verkehrsmittel, mit denen man überall und pünktlich hinkommt, und erst kürzlich ist mir aufgefallen, dass Städte für mich als Ganzes nie existieren, sondern dass sie zerfallen, in winzige Orte, die ich mag, und ich schaue auf meine Schuhspitzen, ausgelatschte, rote Converse, die mich durch die Nacht tragen, und ich will blindlings durch die Stadt gehen, so lange, bis ich bei Dalibor bin, und ich werde ihm in die Arme laufen, davon bin ich überzeugt, und wenn wir uns heute nicht wiedersehen, dann sehen wir uns nie wieder, denke ich, und dieser Gedanke muss schnell wieder weg, ich muss mich auf ihn konzentrieren, auf seine weisse Haut, auf die Art, wie er seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger hält, seine Lippen, die immer leicht zittern, wenn sie erzählen, es ist unmöglich, jemanden aus den Augen zu verlieren, wenn man ständig an ihn denkt, Dalibors Ohren, die so aussehen wie weiche, verletzliche Wesen, Schmuckstücke, habe ich zu ihm gesagt, ihm das Wort auf Englisch zu erklären versucht, meine Ohren sind wertvoller als Diamanten, hat er geantwortet, gelacht, die dunklen Spuren auf seinen Zähnen, der schiefe Rhythmus seiner Zähne, ein Klavier im Mund haben, so sagt man, das Bild stimmt nicht, denke ich, warum fängt meine Liebe zu ihm bei den Zähnen an, frage ich mich, die Augen, ja, logisch, aber die Zähne? und meine Schritte werden immer schneller, meine Converse treiben mich an, seit Matteo hast du dich nie mehr verliebt, sagen sie, und es klingt wie Spott oder eine spöttische Wahrheit, Matteo, das ist sehr, sehr lange her, Matteo und Dalibor, und wenn ich mir die beiden nebeneinander vorstelle, sehen sie sich zum Verwechseln ähnlich, es gefällt mir, dass sie sich in meiner Vorstellung ähneln, Matteo, von dem ich nichts weiss, nur, dass er seit Jahren wieder in Italien lebt, und ich gehe am Fluss entlang, strecke meine rechte Hand zum Geländer, lasse sie da, während ich weitergehe, das Eisen, das kalt ist, kälter als das Wasser? Matteo, der ganz plötzlich weg war, es hiess, die Familie de Rosa habe sich nicht eingelebt, Matteo, den ich am Waldrand getroffen hatte, am See, in der Unterführung, und wir küssten uns auf Ungarisch oder Italienisch, das heisst, wir brachten uns die wichtigsten Wörter bei, und Nomi und ich, wir spielten Pingpong im Freibad, als Matteos Schulfreund uns erzählte, dass sie abgereist seien, Matteo und seine Familie, und ich, die den Pingpongschläger in der einen Hand hielt, den kleinen weissen Ball in der anderen, Matteo, der mir nicht gesagt hatte, dass sie weggehen würden, kein Wort, und Nomi nahm mir den Schläger aus der Hand, hängte sich mit ihrem Zeigefinger an meinen Daumen, er kommt bestimmt wieder, sagte sie, und ich war ganz sicher, dass im nächsten Moment irgendetwas Wesentliches mit mir geschehen würde, das unübersehbar wäre, das kleine Wesen, das gegen meinen Brustkorb hämmerte, würde aus mir herausspringen, und ich hätte eine Wunde, auf die ich zeigen könnte, aber ich weinte nicht einmal; ich hörte dem vergnügten Kreischen der Kinder zu, die schaukelten oder an der Kletterstange turnten, ich sah ihre kleinen, farbigen Werkzeuge, mit denen sie Burgen bauten, Löcher schaufelten, komm, wir holen uns ein Eis, sagte Nomi, zog an meinem Finger, und ich fühlte, dass meine erste Liebe endgültig vorbei war, damals war ich dreizehn Jahre alt.