Ich ziehe meine Hand zurück, gehe schneller, will nicht mehr an Matteo denken, sondern an Dalibor, ich drehe mich um, strecke meinen Daumen in die Luft, drehe mich wieder um, als ein Auto an mir vorbeifährt, und ich gehe noch eine ganze Weile, bis mich ein Paar mitnimmt, in seinem weissen Käfer.
Dalibor sitzt, wie ich gehofft habe, am See, da, wo wir uns bis jetzt meistens getroffen haben, auf den Steinen sitzt er mit angezogenen Beinen, raucht, singt eine kleine Melodie vor sich hin. Ich bleibe hinter ihm stehen, und alle zurechtgelegten Sätze sind weg, Dalibor, den ich noch nie singen gehört habe, sein Sprechgesang, der der Frühlingsluft, dem dunklen See etwas in seiner Sprache erzählt (alle Lieder aller Sprachen müsste man doch verstehen, denke ich, Gott, der seine babylonische Sprachverwirrung auf die gesprochene Sprache hätte beschränken müssen; Dalibors Lied ist so schön und absichtslos gesungen, berührt mich so sehr, dass ich es unerträglich finde, seine Worte nicht zu verstehen). Als es eine ganze Weile wieder still ist, am gegenüberliegenden Seeufer nur noch wenige Lichter brennen, frage ich Dalibor, worüber hast du gesungen? Dalibor, der sich umdreht — und ich bin mir sicher, dass es die weich gesungenen Töne sind, die seine Gesichtszüge verändert haben —, mein Lieblingslied, sagt Dalibor, es erzählt vom Meer, dass es tief ist, weit und grausam, und er streckt seine Hände nach mir aus, wir umarmen uns, flüstern uns einzelne Worte ins Ohr, wir küssen uns, zum ersten Mal, es ist schön, dass du hier bist, wir küssen uns mehrsprachig, ich habe mich in dich verliebt, auf Ungarisch, Deutsch, Serbokroatisch, Englisch.
Wir
Im Juli feiern wir Mutters fünfzigsten Geburtstag, wir sitzen im Auto, fahren den See entlang, an Häusern, Villen, Schiffs-Anlegestellen, Badeanstalten vorbei, die einen freien Blick auf den See erschweren, und Vater schiebt eine Kassette in den Recorder, echte, ungarische Zigeunermusik, sagt Vater, steuert einhändig, schnippt mit der anderen zur Musik, streichelt zwischendurch Mutters Knie, Nomi, die auf eine Baracke zeigt, an der wir gerade vorbeifahren, weisst du noch? aber sicher, die Diskothek des Nachbardorfes, in der wir uns an Samstagabenden den Kopf verdrehen Hessen, von der Spiegelkugel und von Jungs, die schon ein Mofa fuhren, Vater, der uns immer um die gleiche Zeit abholte, um elf (wir, die ihm klarzumachen versuchten, dass er wenigstens auf der anderen Strassenseite warten und nicht aus dem Auto steigen soll), schaut mal her, sagt Mutter zu uns und zu Vater, fahr bitte ein bisschen langsamer! hier haben wir gewohnt, als wir in die Schweiz gekommen sind, und Mutter zeigt auf ein baufälliges Häuschen auf der Seeseite mit drei niedrigen Stockwerken, wirklich, sagt Nomi, warum habt ihr uns das noch nie erzählt? hier sind wir ja schon so oft vorbeigefahren. Bei euch ist man nie sicher, ob euch das interessiert, sagt Vater lachend, und wisst ihr, wir haben mit Sändor und Iren zusammen gewohnt, auf einem Stockwerk, wir haben uns Küche und Bad geteilt, und Vater dreht den Kopf zu uns, nach hinten, wir waren damals, vor mehr als zwanzig Jahren, richtig modern; Mutter, die Vater darauf aufmerksam machen muss, dass wir auf der Strasse sind (Vater, der sich zu Hause einen Aperitif eingeschenkt hat, weil heute Mutters Geburtstag ist, obwohl das nicht ganz stimmt, eigentlich wäre Mutters Geburtstag am Freitag gewesen, aber am Freitag, da konnten wir nicht feiern, deshalb haben wir die Feier auf den Sonntag verschoben, und am Sonntag, da trinkt Vater eigentlich immer einen Aperitif).
Wie lange habt ihr so gewohnt, in eurer WG, frage ich (und WG, Wohngemeinschaft, das war auch so ein Wort, das wir irgendwann einmal unseren Eltern erklären müssten; was? freiwillig mit Fremden zusammen wohnen? sich womöglich noch dasselbe Badetuch teilen?), nix Wegge, sagt Vater (weil es das Wort auf Ungarisch gar nicht gibt!), sondern eine Notlösung. Du hast gesagt, ihr seid modern gewesen, damals, antworte ich; war ein Scherz, Ildi, hast du das nicht gemerkt? ich glaube, wir haben etwa zwei Jahre so gewohnt, mit Sandor und Iren, oder? Vater, der Mutter seine Hand mit dem Ehering hinhält, zwei Jahre und vier Monate, sagt Mutter und nimmt Vaters Hand; Nomi, die mich anschaut, wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem ich sie anschaue (die Erinnerung an einen Silvester, als unsere Eltern sich schön gemacht haben, Vater, der Mutter am Nachmittag das Haar gefärbt hat, ihr die einzelnen Strähnen sorgfältig bepinselte, Mutter, die Vater mit ihrer Nagelschere die Schnauzhaare stutzte, und Nomi und ich, wir sassen auf dem Sofa, nebeneinander, wir fühlten, dass uns warm wurde, bis in den kleinsten Finger, weil unsere Eltern dann so schön vor uns standen, abends, im Korridor, Mutter in ihrem langen, schwarz-silbernen Kleid, Vater in seinem Smoking, wir waren aufgeregt, weil Vater seine Hand unwirklich leicht um Mutters Hüfte legte und Mutters Hand zärtlich auf Vaters Schenkel ruhte; wir gehen jetzt, sagten sie, und wenn jemand von einer glücklichen Kindheit erzählte, dann dachte ich an meine gemeinsame Zeit mit Mamika und an Momente, wo ich mit meiner Schwester erlebte, wie unsere Eltern glücklich sein konnten).
Mutter hat sich zu ihrem runden Geburtstag Fisch gewünscht, dass wir in einem Fischrestaurant essen, und Vater hat zur Überraschung die Ehepaare eingeladen, mit denen sie schon lange befreundet sind, Zoltán und Birgit, Sändor und Iren mit ihren Kindern und natürlich die beiden Schwestern, Frau Köchli und Frau Freuler; als Vater das Auto vor einem Seerestaurant parkiert, in dem sie nur Fischgerichte servieren, sagt er zu uns, wir müssten Mutter jetzt die Augen verbinden. Was, die Augen verbinden? ja, los, los, macht schon! und Vater hält uns ein Seidentuch hin, eine echte Überraschung funktioniert nur, wenn man plötzlich alles auf einmal sieht, und obwohl wir Vaters Idee kindisch finden, machen wir mit, Mutter, die sich offenbar freut, dass Vater sich etwas Besonderes zu ihrem Geburtstag hat einfallen lassen; und wir führen Mutter mit verbundenen Augen ins Restaurant, Nomi führt sie an der einen, ich an der anderen Hand, und Vater winkt uns zu, macht Handzeichen, als wären unsere Augen auch verbunden.
Zur Überraschung gehören ein langer, weiss gedeckter Tisch, eine grosse Vase mit roten Rosen, die Mutter so gern mag, ein paar Geschenke, die schön verteilt auf dem Tisch auf Mutters Hände warten, die eingeladenen Gäste, die ganz still auf ihren Stühlen sitzen, der Geiger und der Kontrabassist der vierköpfigen Band, die jetzt, bei unserem Eintreten, lang gezogene Töne spielen, und erst beim zweiten Hinsehen bemerke ich, dass noch etwas zur Überraschung gehört, nämlich ein Platz am Fussende des Tisches, der leer bleiben wird, der aber gedeckt ist und an dem ein gerahmtes Foto von Tante Icu steht. Findest du das eine gute Idee, flüstere ich in Vaters Ohr, als Mutters Augen noch verbunden sind und Nomi mich mit einem fragenden Blick anschaut, warum denn nicht, sagt Vater, ich habe das Bild extra vergrössern lassen, und ihre Lieblingsschwester soll doch an ihrem fünfzigsten Geburtstag auch dabei sein!