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Kann man dagegen etwas einwenden? Mutter, die sich jetzt die Augenbinde abnehmen darf, in die Hände klatscht, als sie alles sieht, die vertrauten Gesichter, die Blumen, die Musik, die für sie aufspielt, eine schwebende Melodie zum Auftakt, und Mutter fallt Iren und Sändor in die Arme, deren Kindern, Zoltán und seiner Frau Birgit, begrüsst die Schwestern mit einer Umarmung, Mutter, die den leeren Platz mit Tante Icus Foto gar nicht zur Kenntnis zu nehmen scheint, und nachdem sie ihr Jäckchen ausgezogen hat, fängt sie sofort an, mit Vater zu tanzen, in meinem Lieblingskleid, ein bronzefarbenes Kleid, in dem ihr Hals so schön aus den Schultern wächst, was beim Tanzen unvorstellbar elegant aussieht, und die anderen Paare stehen auch auf, schnippen mit den Fingern, die beiden Schwestern, die noch einen Moment lang sitzen bleiben, sich dann aber beim Aufstehen helfen, schüchtern und doch fröhlich mit allen anderen mittanzen.

Nomi und ich, wir setzen uns zu Attila und Aranka, den Kindern von Iren und Sändor, die wenig älter sind als wir, und es ist eine eigene, schwer zu beschreibende Vertrautheit, die uns verbindet, wir brauchen keine Aufwärmzeit, sondern knüpfen direkt da an, wo wir das letzte Mal aufgehört haben, auch wenn Monate zwischen unserem jetzigen und unserem letzten Treffen liegen, und wir sprechen Deutsch, wechseln immer wieder ins Ungarische, in einem raschen Rhythmus erzählen wir uns, wie es geht, im Leben, bei der Arbeit, die Probleme mit unseren Eltern, und oft denke ich, dass wir uns häufiger sehen sollten, unsere Treffen nicht abhängig sein sollten von denjenigen unserer Eltern, aber wahrscheinlich wissen wir alle, dass es ausserhalb dieses Kosmos nicht funktionieren würde.

Hast du dich verliebt, fragt mich Attila ohne Umschweife, du siehst so verliebt aus, Dalibor heisst er, antworte ich, szerelmes, ja, bis über beide Ohren, sagt Nomi, skerelmet, füstöt, köhögest nem lebet eltitkolni, Liebe, Rauch und Husten könne man nicht verheimlichen, sagt Aranka, und wir lachen über dieses ungarische Sprichwort, und ich muss von meiner neuen Liebe erzählen, auch deswegen, weil Dalibor aus Jugoslawien kommt, ich erzähle, wie wir uns kennengelernt haben, dass ich eigentlich nicht so viel weiss, von ihm, die ersten paar Wochen war er in Chiasso, dann in Kreuzungen, ein Flüchtling, fragt Aranka, ja, anerkannter Flüchtling, aber immer noch arbeitslos, und ich erzähle, wie schwierig es für Dalibor ist, Arbeit zu finden — unsere Eltern, die uns zuwinken, uns auffordern, auch zu tanzen, vielleicht später, sagen wir, wir seien noch nicht in Tanzstimmung — und deine Eltern? hast du ihn schon vorgestellt? ist noch zu früh, antworte ich schnell, wir kennen uns erst seit ein paar Wochen. Serbe, fragt Aranka. Ja, Serbe, der in Kroatien gelebt hat, in Dubrovnik. Also schwierig für deinen Vater, schwierig oder unmöglich, antworte ich (und wir haben schon oft scherzhaft spekuliert, wie wir die Stecknadel im Heuhaufen finden könnten, den idealen Mann, den sich unsere Väter für ihre Töchter wünschen, zuallerletzt einen Serben, sicher keinen Russen, aber auch keinen Schweizer, der ideale Mann ist ein Ungar, am allerbesten ein vajdasägi magyar, ein Vojvodiner Ungar, dem man Geschichte nicht erst erklären muss, der weiss, was es heisst, einer Minderheit anzugehören, und weil er das weiss, ist er auch ausgewandert, in die Schweiz, ein Vojvodiner Ungar, der erfolgreich ist in der Schweiz, einen richtigen Beruf hat, also nichts mit Reden oder Malen oder Musik; er hat ausserdem Haare oberhalb der Lippen und kurzes Haupthaar, zückt immer als Erster, unauffällig, das Portemonnaie, er lässt sich nie von einer Frau einladen und isst gern schweres, männliches Essen, das Gegenteil also von jenen bleichen Männern, die so viel Gemüse und Salat essen wie die Kühe Gras, seine Kleidung ist korrekt, vor allem seine Schuhe, er war im Militär und geht sicher nie demonstrieren in einem demokratischen Land, womöglich noch am 1. Mai!), vielleicht trauen wir unseren Vätern zu wenig zu, meint Nomi, wir glauben ja ständig zu wissen, wie sie reagieren, sicher nicht grundlos, meint Attila und bittet mich zum Tanz, dagegen kann ja dein Vater nichts haben, wenn ich mit dir tanze, sagt er, und wir stehen auf, der Geiger macht ein paar Schritte auf uns zu, fragt uns während des Spielens, ob wir wüssten, was dem Geburtstagskind besonders gefallen würde, und ich sage sofort, Wenn ich einmal viel Geld habe, setze ich mich ins Flugzeug, Mutter, die, als die Musiker die ersten paar Takte spielen, stehen bleibt, Vater an der Hand hält und nach der ersten Strophe in Tränen ausbricht, und Mutters Weinen ist ansteckend, wir alle haben Tränen in den Augen (und es sollte ein eigenes Wort geben für ein ansteckendes Weinen, denke ich), auch Frau Köchli und Frau Freuler langen nach ihren Taschentüchern, obwohl sie ja den Text nicht verstehen und das Lied einen beschwingten Rhythmus hat, Vater, der Mutter wieder um die Hüfte fasst und im Takt der Musik durch den kleinen Saal ruft: Auf meine Rózsa, auf ihren runden Geburtstag! auf meine schöne, geliebte Rose, dass wir noch viele Jahre zusammen feiern können! Attila und ich, wir tanzen neben den Schwestern, ich übersetze, was Vater ruft, und die Musiker spielen jetzt einen Tusch, Vater, der dem Kellner schnippt, er solle den Champagner bringen, und Vater schüttelt die Flasche, es muss schäumen, sagt er, das bringt Glück, wenn der Boden ein paar Spritzer abbekommt! und wir stossen an, wir überbringen Mutter gute Wünsche, wollen sie zum Tisch führen, damit sie die Geschenke aufmacht, aber Mutter winkt ab, es sei noch zu früh für die Geschenke, sie wolle noch ein paar Worte sagen, und wir bleiben stehen, bilden einen Halbkreis um Mutter, die ihre rechte Hand auf ihren Brustkorb legt, und Mutter sagt zweisprachig, dass sie sich sehr freue, dass wir alle gekommen seien, um mit ihr zu feiern, und Mutter lässt sich Zeit, überlegt, fährt sich mit der Hand über die Stirn (Nomi, die neben mir steht, sich bei mir einhängt), ich bin jetzt fünfzig Jahre alt, sagt Mutter, und mit meinen fünfzig Jahren kann ich mich ganz genau erinnern, wie mir meine Mutter zum ersten Mal ein Kleid geschenkt hat, das sie selber genäht hat, zu meiner Kommunion, und ich will euch jetzt nicht langweilen und euch beschreiben, wie das Kleid ausgesehen hat, aber dieses Kleid habe ich getragen, bis ich fünfzehn war, meine Mutter hat es so genäht, dass jedes Mal, wenn sie den Saum um ein Stückchen gelöst hat, ein neues Muster zum Vorschein gekommen ist, und als kein Saum mehr da war, hat sie ein bisschen Spitze ans Kleid genäht (Mutter, die mit den Händen ihre Worte illustriert, mich bittet, Spitze und Saum ins Deutsche zu übersetzen), und als ich wirklich nicht mehr ins Kleid passte, hat sie aus dem Stoff Kissenbezüge gemacht, und heute habe ich, ich kann euch nicht sagen warum, die Kissen aus ihren Bezügen genommen, ich bin mit meiner Hand über den Stoff gefahren, und erst heute ist mir aufgefallen, dass meine Mutter etwas in den Stoff gestickt hat, so fein, dass man es nur sieht, wenn man den Stoff schräg gegen das Licht hält, für meine geliebte Tochter, das habe ich heute gelesen, an meinem fünfzigsten Geburtstag — und Mutter sagt, ihr Herz sei davon immer noch so in Berührung, dass sie es uns habe erzählen müssen (und ich, die in Nomis Arm spürt, dass sie berührt ist, von Mutters Worten, und ich weiss, dass Nomi an die Kissen denkt, die immer im Schlafzimmer unserer Eltern aufgestellt sind, von denen wir bis anhin nur gewusst haben, dass sie für Mutter eine besondere Bedeutung haben); Mutters Mutter, die jetzt mitten unter uns steht, mit einem hellen Faltenrock im Stil der 20er Jahre, einer bestickten Bluse, einem Blumenkranz und einem kleinen Schleier, die ihre Haare schmücken; und mein Blick verschiebt sich, bleibt am rechten Fuss, an der rechten Ferse hängen, die eingebunden ist, eine Ecke des Verbandes, die vom schwarzen Schuh nicht überdeckt wird; der Blick von Mutters Mutter, schön, gross, wissend, Augen, die nach hinten und nach vorne schauen, in eine Zukunft mit einem acht Jahre älteren Mann, weder glücklich noch unglücklich, sondern unausweichlich, der Bund mit einem um fast zwei Köpfe grösseren Mann, mit hochrasiertem Haar, eine Hose, die in Stiefeln steckt, eine Hand, die die hellen Handschuhe hält.