Als Nomi nach Hause kommt, ist die Whisky-Flasche leer, der Fernseher schweigt, Mutter und ich sitzen immer noch am Tisch, und Nomi, die um die Ecke schaut, strahlt, wirft uns eine Kusshand zu, Vater, der auf dem Sofa schläft, schnarcht, was ist mit euch los, sagt Nomi mit einem Lachen, setzt sich neben uns an den Esstisch, wo warst du, fragt Mutter. Ich habe ein umwerfendes Konzert gehört, ich habe bei meinem Freund geschlafen, ich war betrunken, ich habe den ganzen Tag verpennt und am Nachmittag mit Dave gefrühstückt, und jetzt bin ich hier und freue mich, euch wiederzusehen, und Nomi ist schön, denke ich, ihr Gesicht sieht aus wie frischer Teig, der klare Schwung ihrer dunklen Augenbrauen; du hättest wenigstens anrufen können, antwortet Mutter matt, ja, das summt, antwortet Nomi, das habe ich völlig vergessen, aber ich will nicht immer anrufen müssen, sagt Nomi, ihr wisst doch, dass ich wiederkomme, oder? Vater, der sich aufsetzt, nach einer Zigarette langt, seinen Husten hustet, mit der rauchenden Zigarette aufsteht, zu uns kommt, an den Tisch, der die Hand ausstreckt nach Nomi, sie in die Arme nimmt, ich, die Vater die Zigarette aus den Fingern zieht, Vater, der sein Gesicht verbirgt in Nomis Schulter.
Niemand von uns hat erwartet, dass das Telefon frühmorgens klingelt. Es ist halb sechs, Vater ist bereits weg, als es zwei Mal klingelt und danach wieder still ist. Nomi, Mutter und ich treffen uns im Korridor, warten neben dem Telefontisch, vielleicht ist Dragana krank oder Glorija, sagt Mutter, und wir wissen alle, dass es um etwas anderes geht. Ein paar Minuten später klingelt es wieder, hallo, hallo? Du bist es, sagt Mutter in unserer Sprache und hält den Hörer mit beiden Händen, und schon bald sagt sie, dass es ihr leid tue, ach, meine Liebe, sagt sie, ich hoffe, dass alles gut geht, was? die Verbindung ist so schlecht, ich kann dich fast nicht hören, ja, ich bin auch froh, dass wir uns wenigstens gehört haben, Mutter, in deren Händen der Hörer liegt, uns anschaut mit ihren fliehenden Augen, sagt, dass sie Bela eingezogen haben, in die jugoslawische Volksarmee, nicht jetzt, sondern schon vor zwei Monaten, dass er jetzt in Bosnien kämpfe, in Banja Luka.
Und ich weiss, dass ich nichts fragen darf, dass ich jetzt still sein muss, dass wir uns anziehen müssen, dass wir nichts tun können, Mutter dreht sich um, verschwindet im Schlafzimmer, zieht die Tür hinter sich zu, und sie, die ich bin, steht da, im Korridor, und mein Blick bleibt am Puzzle-Bild hängen, das Nomi und ich vor Jahren zusammengesetzt und aufgeklebt haben, ein 750-teiliges Landschaftsbild aus Bergen, Wiesen und Blumen und — das Schwierigste — einem glasklaren Himmel. Nomi, die mich kurz anschaut, dann das Bügelbrett aufklappt, das Bügeleisen mit Wasser füttert, um eine dieser zeitlos hässlichen Blusen zu plätten, und ich verziehe mich ins Badezimmer, um an diesem Morgen das zu tun, was ich täglich tue: Gesicht, Hals und Achselhöhlen waschen, Zähne putzen, Wimpern tuschen, einen unauffälligen Mund malen, um schon bald angenehm in Erscheinung treten zu können. Und wir werden einzeln die schlechte Nachricht in uns hineinfressen, hoffen, dass die nächsten Tage sich nicht um uns kümmern, dass sie gesichtslos und normal an uns vorbeiziehen, und ich habe keine Ahnung, was man tun müsste, ja was denn? Man müsste man müsste man müsste… und anstatt dass sich in meinem Hirn ein überzeugender Aktionsplan entfaltet, fällt mir nur ein, dass Onkel Piri im Gemeindesaal einen Vortrag über die kusok halten könnte, wie er die Politiker immer nannte, eine, wie mir scheint, passende Verballhornung des ungarischen Wortes für Politiker, politikusok, das auf Deutsch nach Kuscher klingt, weil das ungarische "s" wie "sch" ausgesprochen wird — und Tante Icu würde ihn mit ihrer reglosen, stolzen Miene anfeuern —, diese Luftbanditen, Luftzerkauer sehen so aus, als hätte ihnen ein Kalb das Gesicht geleckt, aber es war nicht die rosige Zunge eines unschuldigen Tieres, oh nein, viel eher hat der Teufel mit seiner gespaltenen Zunge jedes einzelne kusok geleckt! Schau sie dir an, sagte er, als wir einer politischen Debatte zuhörten, die im Fernsehen übertragen wurde, ein kusok ist wie der andere: Wenn er mal da ist, wo er hinwollte, hat er das gleiche geschleckte Gesicht wie all die anderen, und es sieht einem geölten Arsch nicht unähnlich, na, wie ist das möglich? Und Tante Icu, die beim Stichwort "Tier" wieder einmal die Gelegenheit benutzte, um über Belas Tauben zu fluchen, diese Viecher treiben mich noch in den Wahnsinn, tun den ganzen Tag nichts anderes als rumgurren und rumscheissen (die Taubenzucht von Bela, die den ganzen Dachboden in ein gespenstisches Meer von grau-weiss-grünlich ruckenden Köpfen verwandelte, Vater, der, als er die Tauben zum ersten Mal sah, gesagt haben solclass="underline" Schau einer an, so viele hübsche Kommunisten auf einem Haufen habe ich schon lange nicht mehr gesehen), Bela, der die Tauben nicht mitnahm, als er heiratete, in ein filzgrünes Haus auf der gegenüberliegenden Strassenseite zog, weil er befürchtete, dass seine gottverdammten Viecher empfindlich sind, diese lächerliche, winzige Umstellung nicht überleben, so fluchte Tante Icu, diese Viecher, deren Augen so hässlich sind wie Nacktschnecken, fliegen überallhin, meinst du, die kümmert's, ob sie nun hier oder einen Steinwurf weiter weg von Bela verhätschelt werden? Tante Icu, die sich zwar immer über die Tauben ärgerte, sonst aber nichts auf ihren Sohn kommen liess, Tante Icus goldene Ohrringe, die in glücklicher Erregung zitterten, wenn ihr Sohn anya zu ihr sagte, Mutter, in einem Tonfall, der genau wusste, was er bewirkte, nämlich all das, was er sich in den Kopf gesetzt hatte.