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Am Samstag muss ich um sieben im Mondial sein, muss mein Gesicht bereit sein, guten Morgen! und bei der Arbeit werde ich das Radio heute sicher nicht anstellen, auch wenn alle fragen: Fräulein, warum ist es so merkwürdig still? (nach langen Wochen, da wir endlich wieder ein Lebenszeichen von unserer Familie bekommen haben, ein Zeichen, dass das eintritt, was wir hier täglich einsam befürchten, dass die Familie, die drüben ist, im Osten, nicht verschont bleibt, dass der Krieg tatsächlich ein Gesicht hat, das befiehlt: Pack deine Sachen, los, mach schon! Arme, Beine und eine fatale Geschwindigkeit, die sofort tötet, wenn jemand sich widersetzt), heute werde ich mich taub stellen, denke ich, ich, die eigentlich schon lange nichts mehr hören will, sehen schon gar nicht, kein Radio, kein TV (was läuft eigentlich so in der Welt?), Zeitungen? so oft habe ich mir vorgenommen, nichts mehr an mich ranzulassen, tagelang habe ich kein Radio gehört, keine Zeitungen gelesen, habe mich in mein Zimmer verzogen, mir sogar die Ohren verstopft, wenn Vater stundenlang die Nachrichten geschaut hat; ich habe mich tagelang enthalten, wenn ich fassungslos war über Titel wie "Gibt es noch einen Weg aus der Balkan-Horrorshow?", um plötzlich wieder alle Tageszeitungen fiebrig nach Artikeln über den Balkankrieg abzusuchen (Balkankrieg, das klingt wie eine Spezialität, so wie es Waaddänder Saucisson oder Wiener Schnitzel gibt, witzelte Nomi, ja genau, Balkankrieg ist die Spezialität eines Volkes, ein hausgemachtes Produkt, das einem kriegerischen Charakter entspringt; es gelingt uns manchmal, uns über solche Begriffe wie "Balkan-Horrorshow" lustig zu machen, weil wir dem Schmerz Flügel verleihen wollen, und ich weiss, dass sich das ab heute ändern wird, ich weiss, dass ich keine Zeile mehr über den Balkankrieg werde lesen können, ohne dass ich an Bela denke).

Ich öffne meine Schranktür mit Schwung, damit ich den Schrankwind in meinem Gesicht spüre, ich, die ratlos vor ihren Mondial-Kleidern steht (hübsch soll es sein, aber nicht auffällig, farbig, aber nicht grell, ich kombiniere, wähle so aus, dass ich dem allgemeinen Geschmack entspreche, das heisst oben nie zu dunkel, keinesfalls eine schwarze Bluse, im Allgemeinen oben immer heller als unten, ein schwarzer Jupe, das geht, eine schwarze Bluse niemals), und seit längerem habe ich angefangen, den Mondial-Kleidern Namen zu geben. Die Daisy-Duck-Bluse habe ich bereits erwähnt, aber da gibt es noch andere, das armeegrüne Kleid zum Beispiel, von dessen einer Schulter sich ein etwa handbreites, sinnloses Stück Stoff bis zur Hüfte zieht, und die Blusen der Marke Zeitlos-Hässlich (hellgrau oder hellbeige, aus dickerem Stoff und unverfänglich geschnitten) und die sogenannten Deux-Pieces, die ich meine Pfister-Kleidchen nenne, weil mir Herr Pfister jedes Mal, wenn ich eines von ihnen trage, ein Kompliment macht, und weil ich mich für nichts entscheiden kann, ziehe ich die Schublade auf, reisse eine Packung "Femme luxe" auf, verkürze die Strumpfhosenbeine Stück für Stück in meinen Händen, lege meine Zehen in die verstärkten Enden, ziehe die Strumpfhose über die Knie, zu rasch, und ich ärgere mich über die Lauf- oder Fallmasche, ich ziehe die Strumpfhose wieder aus, Nomi, die an meine Zimmertür klopft, wir müssen bald los, sagt sie, ja! und ich, die wieder vor dem Schrank steht, mir vorstelle, wie ich mich in eine Bluse packe, wie ich mich zuknöpfe mit den Knöpfen, die mit demselbem Stoff überzogen sind wie die Bluse, als ich mir vorstelle, wie ich bald mit hochgeschlossener Bluse und Jupe im Mondial stehe, sehe ich Bela, wie er in meinem Schrank kauert. Mit dem Gesicht eines bleichen Mannes, eines zu Tode erschrockenen Jungen macht er unmissverständliche Handzeichen, ich soll den Schrank wieder schliessen, er hat sogar die Lippen bewegt, sage ich zu Mutter, die in meinem Zimmer steht, neben Nomi, ich, die den Schrank geschlossen hat, weil Bela mich darum gebeten hat, sage ich; Mutter, die meint, die Nachricht sei ein Schock, klar, und sie öffnet den Schrank, um mir zu zeigen, dass es eine Einbildung war, meine Phantasie, die mir einen Streich gespielt hat, Nomi, die mir ein Kleid aus dem Schrank nimmt, damit ich nicht auswählen muss, und ich, die sagt, dass das doch etwas zu bedeuten habe, dass ich Bela in meinem Schrank gesehen habe, wahrscheinlich schon, antwortet Nomi und hilft mir ins Kleid, wir müssen uns beeilen, sagt sie, Mutter, die neben uns steht, aus dem Fenster schaut, es kann doch sein, dass morgen alles vorbei ist, sagt sie. Wie meinst du, alles vorbei, frage ich. Der Krieg, antwortet Mutter. Es gibt immer einen Tag, an dem der Krieg vorbei ist, warum sollte dieser Tag nicht morgen sein?

Tito hat Jugoslawien mit eiserner Faust zusammengehalten, so Herr Berger, der von der renommierten Tageszeitung aufschaut, sich ein bisschen zurücklehnt, weil heute Samstag ist, er war doch, das muss man sagen, eine charismatische Führerpersönlichkeit, Herr Berger bespricht sich mit Herrn Tognoni (einem Einwanderer, der es geschafft hat, mehrere Bauunternehmen besitzt), und vor allem der Samstag ist der Tag, den ich überstehen muss, ohne das Geschäft wäre der Samstag ein silberner Tag, an dem es immer, zu jeder Stunde, eine kleine Überraschung geben könnte, an diesem Tag müsste man um die Kastanienbäume stehen, direkt vor dem Mondial, am Samstag, da die aufgesparten Wünsche sich zu einem grossen Wollen zusammentun, jeder Fehler wiegt samstags doppelt so schwer, das wissen Nomi und ich, die heute servieren, die Wünsche, die uns mit liebenswürdigem Blick erreichen, liebenswürdig und unerbittlich, denke ich (die Ausnahmen wie Herr Schlosser, der in seiner stillen Ecke sitzt, wunschlos glücklich mit seinem Kaffee Creme und seiner Neuen Revue oder die beiden Schwestern, Frau Köchli und Frau Freuler, die uns die Hände drücken, bevor sie sich setzen, und dieser Händedruck ist so verschwenderisch in seiner Wärme und Direktheit, dass ich jedes Mal überrascht bin, obwohl sie uns immer so begrüssen), all die Samstagskönige und Samstagsköniginnen, deren Fingerzeige wir befolgen, und ich habe es nie jemandem gesagt, dass ich samstags allen anderen begegne, nur mir nicht.

Tito hatte Jugoslawien im Griff, muss man sagen, wiederholt Herr Berger, wussten Sie, dass er mit bürgerlichem Namen Josip Broz hiess? und Herrn Bergers Pfeife raucht, während ich am Tisch stehe, darauf warte, was Herr Berger und Herr Tognoni bestellen wollen (einen Gast darf man nie hetzen, am Samstag schon gar nicht). Der Balkan ist eine einzige Krise, Herr Tognoni bestellt ein grosses Frühstück ohne Konfitüre, dafür mit Drei-Minuten-Ei, der Balkan ist aber keine Einheit, Herr Berger, dessen Rauchzeichen in meine Nase steigen, meine breiten Nasenflügel kitzeln (Sie haben fast eine Afro-Nase, sagte einmal jemand, ein Gast, Ihre Nase würde gut zu einem schwarzen Gesicht passen. Ja, finden Sie, finden Sie wirklich?), ah ja, sagt Herr Berger zu meiner Bluse, einen Kaffee Creme für mich und einen ganz hellen Milchkaffee mit Assugrin für meine Frau, meine Frau ist noch nicht hier, aber Sie können ihn bereits bringen, weil meine Frau bald kommt. Gern, sage ich. Und der Balkan ist ein Vielvölkerstaat mit einer interessanten Geschichte, und Josip Broz war ein intelligenter Mann, er hat Nikita Chruschtschow brüskiert, er, Tito, hat den dritten Weg versucht, der natürlich von vornherein zum Scheitern verurteilt war, und: Waren Sie schon einmal in Jugoslawien? Ja wirklich? Und Herr Tognoni war schon einmal in Jugoslawien, in Ljubljana, gar nicht so weit von Italien entfernt, erzählt er, während ich aufdecke, Tischset, Serviette, Messer und Löffel, Ljubljana sei nicht zu verachten, habe was zu bieten, Slowenien sei ja mit dem Rest des Balkans gar nicht vergleichbar, Österreich-Ungarn habe da einen entscheidenden Einfluss gehabt, das dürfe man nicht vergessen. Und ich stelle das Körbchen auf den Tisch mit einem Croissant, einer Semmel und einer Scheibe Brot.