Um halb zwölf sitzen Nomi und ich am Personaltisch, essen Rindsvoressen mit Kartoffelstock und Vichy-Karotten, ich halte dieses Gerede nicht mehr aus, sage ich, Nomi, die mich anschaut, die Sauce mit dem Kartoffelstock vermischt, dieses Geplapper über Jugoslawien — Nomi, die mich immer noch anschaut, während sie den Mund öffnet, einen Bissen nimmt, kaut, schluckt, was erwartest du denn, sagt Nomi, und ich, die aufhört zu essen, zünde mir eine Zigarette an, ich würde sie gern provozieren, sage ich, wen sie, fragt Nomi und spiesst sich ein Stückchen Fleisch auf die Gabel, du weisst schon, wen ich meine. Dann tu es doch, und Nomis Gabel bleibt in der Luft, mit den Spitzen gegen mich gerichtet, so wie die Menschen etwas kauen wollen, wollen sie etwas plappern, und das ist an und für sich nichts Schlechtes, und es ist auch nicht für dich bestimmt, Nomi, die die Gabel auf den Tellerrand legt. Für wen denn sonst? und ich schaue an Nomi vorbei, blicke ins Mondial, das jetzt, wie immer um diese Zeit, fast leer ist. Für den Tag, den langweiligen Morgen, für die Luft, stell dir vor, wie es wäre, wenn der Luft ständig übel würde. Vielleicht sehen wir es nicht, dass es so ist, antworte ich.
Ildi, sagt Nomi, niemand kann etwas dafür, dass unsere Familie in Jugoslawien lebt.
Nicht einmal wir, antworte ich, drücke meine Zigarette aus, stehe verärgert auf, bringe unsere Teller in die Küche, und als ich Marlis sehe, wie sie mit ihrem hellen Blick vor sich hinmurmelt, weiss ich plötzlich, wie harmlos sie ist, die plaudernde Geschwätzigkeit, gegenüber dem Lauern der Gebrüder Schärer, die ausdauernd und präzise auf den richtigen Moment warten, um uns, in ihrem Neid, einen bleibenden Denkzettel zu verpassen.
Mamika und Papuci
Wir haben nur ein paar Tage Zeit, um unsere Verwandten in der Vojvodina zu besuchen, im Sommer 1988, als unsere Eltern ihre erste Cafeteria führen, in einer merkwürdigen Hektik setzen wir uns in Wohnzimmer, die wir seit Jahren kennen und die sich, seit wir sie kennen, nicht verändert haben, weil sie nur für festliche Angelegenheiten, für Ausnahmezustände gebraucht werden: Möbel, die immer noch nach Fabrik riechen, obwohl sie schon so lange an demselben Ort stehen, zimmerhohe Wohnwände, Polstergruppen, Tischchen, die mit bestickten Tischtüchern geschmückt sind; die Tapeten, die in diesen Vorzeigezimmern immer perfekt sind, Kristallgläser, die so unwirklich aussehen, das unbeschreiblich Kühle, Verlassene dieser Zimmer, und Nomi und ich, wir sind uns darin einig, dass wir diese Zimmer nicht mögen, obwohl wir uns wünschen, dass sich in unserer Heimat nichts verändert, finden wir diese Zimmer, in denen sich nicht das Geringste verändert, abstossend, erschreckend, und wenn uns Tante Manci ins "gute Zimmer" bittet, uns die lebensgrosse Puppe mit ihren strahlend starren Augen anschaut, immer noch! dann sagt Nomi, dann sage ich, Tante Manci, können wir uns nicht in die Küche setzen? (Mamika und Tante Icu, die kein Vorzeigezimmer haben, glücklicherweise.)
Es regnet, nicht ständig, aber oft, das passt doch, meint Nomi, das Wetter fühlt mit uns mit, und in rasender Geschwindigkeit besuchen wir unsere Verwandten, als hätte euch eine Wespe in den Arsch gestochen, witzelt Onkel Piri, und wir lachen, während wir weinen und uns verabschieden, nur wenige Stunden, nachdem wir uns unter Tränen begrüsst haben — und schon setzen wir uns in die nächste Küche oder in eines dieser Vorzeigezimmer, trinken wieder Traubi oder Tonic oder Schnaps, und wir müssen abwinken, weil wir bereits nach dem Mittagessen ein Stück Kuchen gegessen haben, wir winken ab und sagen, vielleicht später, um niemanden zu beleidigen, als wir ein bisschen erzählt haben, von unserem Leben in der Schweiz, dass wir jetzt eine Cafeteria führen (und jemand fragt, ob die Schweizer denn Zeit hätten, Kaffee zu trinken, und wie! antwortet Vater, wir haben Gäste, die sitzen den ganzen Morgen bei uns, und natürlich sind alle beeindruckt, so viele Stunden in der Cafeteria rumsitzen und trotzdem so reich sein! aber ja, Kinder, die Schweizer lassen eben ihr Geld arbeiten; und alle lachen, weil man sich nicht genau vorstellen kann, wie man das Geld für sich arbeiten lässt), als wir gehört haben, was unsere Verwandten erzählen, dass das Leben immer noch schwer sei, oh oh, der Mais und die schönen Sonnenblumen, wenn es weiter so regnet, gibt es eine miserable Ernte dieses Jahr (und ich erinnere mich, dass Onkel Móric gesagt hat, er wäre gern mein Onkel aus Amerika, als ich ihm erzählt habe, ich sei nach meinem Schulabschluss in Amerika gewesen, in den Vereinigten Staaten! so nickte Onkel Móric, wo alle grossartigen Maschinen erfunden werden und die Weizenfelder endlos sind, die Menschen ins Glück hinein geboren werden, und ich verstehe gar nicht, dass ihr damals nicht nach Amerika ausgewandert seid, sagte er zu Vater, ich wäre bestimmt nicht in Ruropa geblieben, Vater, der über seine Schnauzhaare fährt, sagt, mein grosser Bruder, hättest du uns in all den Jahren wenigstens ein Mal besucht, wüsstest du, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben, Tante Manci, die dann rasch nach der Platte mit dem aufgeschnittenen Fleisch greift, Würste, Schinken, Spezialspeck, die mit Tomaten, weissem Paprika, sauren Gurken und roten Zwiebeln eingerahmt sind, und Tante Mancis Mund, der sprudelt, sie würden jetzt auch Mangalitza-Schweine züchten, die seien sehr begehrt, eine alte Rasse, die viel kompakteres, schmackhafteres Fleisch liefere), und schneller als sonst stehen wir auf, in der ersten Gesprächspause greifen wir nach den mitgebrachten Säcken und Taschen — mit der Zeit haben wir eine richtige Systematik im Geschenke verteilen entwickelt, Nomi, die den Kaffee, die Schokoladen, die Seifen auf den Tisch stellt, ich, die ein paar Worte über die mitgebrachten Kleidersäcke verliert, Mutter und Vater, die die spezifischen Geschenke überreichen, Diät-Schokolade für unsere Mamika, Taubenfutter für Bela, Haarfärbemittel für Belas Frau, die Coiffeuse ist, hautfarbene Verbände für Tante Icu, deren Beine von ihrer Arbeit in der Hanffabrik schwarz gefleckt sind, den Asthma-Spray für Onkel Móric, dessen Atemwege verklebt sind, weil er nicht nur Bauer ist, sondern seit Jahren auch in der Mühle arbeitet, einen Mixer für Nándor und Valeria, die mittlerweile zwei Kinder haben — und als wir abends erschöpft in Mamikas Küche sitzen, Nomi sagt, sie wisse gar nicht mehr, wer was erzählt habe, es vermische sich alles, da meint Vater, wir seien noch bei Grossonkel Pista eingeladen, er habe es ihm versprochen, dass wir ihn heute noch besuchen, da rebellieren Nomi und ich, wir können nicht mehr, Mamika, die Vater davon überzeugen kann, dass er und Mutter Pisti allein besuchen, und am letzten Tag vor unserer Abfahrt solle der Pisti noch zum Kaffee vorbeikommen, dann könnt ihr euren Grossonkel wenigstens noch zum Abschied küssen, sagt Mamika lachend.
Es war an diesem Abend, als Nomi und ich mit Mamika allein waren, und nachdem wir über den Innenhof gerannt waren, um Mamika beim Füttern der Tiere zu helfen, sassen wir am Küchenusch, schauten eine Weile zu, wie der Regen gegen das Fenster schlug, da sagte Mamika, ich möchte euch etwas über euren Grossvater erzählen, dieser verrückte Regen sagt mir, dass ich das tun muss. Hat euch euer Vater je etwas über euren Grossvater erzählt? Wir wissen, so Nomi, dass Papuci im Arbeitslager war und dass er sich zum 1. Mai ein Kilo Läusepulver gewünscht hat (Vater, der uns vor ein paar Monaten mit einer rauen, flüsternd eindringlichen Summe, die keinen Widerspruch duldete, von Grossvater erzählte, als es darum ging, ob wir am 1. Mai unser Geschäft schliessen oder nicht. Schliessen? am Tag der Arbeit? so unterbrach uns Vater, als Nomi und ich bereits zu einem leisen Protest angesetzt hatten, hört mal zu, wir werden am Tag der roten Scheisser ein ganz besonderes Menü auf die Karte setzen, ein schönes, safdges Gulasch oder eine Schweizer Spezialität, Kalbsgeschnetzeltes mit Rösti, und ich schlage vor, dass wir unseren Gästen sogar einen Kaffee spendieren — und wisst ihr warum? Ich werde es euch verraten, euren blöden Köpfen, die jetzt wegschauen, weil sie nur einen freien Tag wollen. Wir durften eurem Grossvater am 1. Mai ein zusätzliches Kilo ins Arbeitslager schicken, das monatliche Kilo wurde am 1. Mai um ein Kilo aufgestockt, und wisst ihr, was wir eurem Grossvater nach Pozarevac geschickt haben? Nein? Ihr werdet es auch nicht erraten! Läusepulver haben Mamika, Onkel Móric und ich ihm geschickt, das kräftigste Läusepulver, das wir auftreiben konnten! Papuci, euer Grossvater, hat sich das gewünscht zum 1. Mai, um seinem blutig gebissenen Schädel Linderung zu verschaffen. Als er aus dem Arbeitslager zurückkam, erkannten wir ihn nicht wieder. Seine Kopfhaut war vernarbt, seine schwarzen Locken hatte die Läusegemeinschaft aufgefressen und nur noch weisses, schütteres Haar übrig gelassen. Meine lieben Töchter, der 1. Mai wird für mich immer ein Kilo Läusepulver bleiben, ein zusätzliches Kilo, das die Roten erlaubt haben, an ihrem Feiertag, an dem ich immer arbeiten werde, und ich werde für Papuci ein Festessen kochen, das sag' ich euch! Aber ihr, wollt ihr etwa demonstrieren? eine rote Fahne schwenken? oder "Breschnew, Breschnew" rufen? oder "Stalin?", oder "Lenin?", oder "es lebe der Kommunismus?", oder wollt ihr etwa "es lebe die Enteignung" rufen? gehört ihr etwa zu den Roten oder zu den Grünen? Möchte bloss wissen, welcher von euren Schweizer Freunden euch in den Kopf geschissen hat, oder habt ihr euch etwa selber in den Kopf geschissen?), stimmt, sagte Mamika, das mit dem Läusepulver habe ich vergessen, aber jetzt erinnere ich mich, ein ganzes Kilo haben wir eurem Papuci geschickt, und Mamika erhob sich, sagte, wir sollten uns ins andere Zimmer setzen, sie habe in der Kredenz ein Foto von Papuci, das einzige, und das wolle sie uns später zeigen.