Sein Vater, mein Onkel Piri, der machtlos zusehen musste, wie die Uniformierten seinen Sohn mitnehmen (und nicht Csaba), Onkel Piri, der seine mici, seine Mütze, nach hinten, nach vorne, nach hinten schiebt und dann mehrmals gegen den Stamm des Ölbaumes spuckt, als er Belas Rücken sieht, eingeklemmt im strengen Gleichschritt zweier Soldaten.
Tante Icu, die sich im Garten auf ihren Schemel setzt, die verblühten Maiglöckchen anstarrt und unter dem Einfluss der Aprikosenrosen in ein inniges Gemurmel verfällt, im Glauben, dass man den Liebes-, Frühlings-, Blumenmonat darum bitten könne, den einzigen Sohn gesund, wohlbehalten, lebensfähig wiederzubringen, und nach mehrmaligem, vergeblichem Rufen steht Onkel Piri im Garten, hört, wie seine Frau ein altes, fast schon vergessenes Lied vor sich hinsummt, das er noch aus seiner Soldatenzeit kennt: Ich heisse Fabian Pista, Soldat soll ich werden. Sie wollen mir meine Locken abschneiden, so muss man dem Kaiser dienen. Ich heisse Fabian Pista, Soldat soll ich werden. Sie wollen mir meine Locken abschneiden, ich werde dem Kaiser nicht dienen.
Bela, der sich monatelang bei Freunden versteckt hatte, sich nur noch nachts nach draussen traute, sich an einem abgelegenen Ort am Fluss mit seiner Frau und seinen Kindern traf, Belas Magen, der anfing, sich selbst zu verdauen, das ist kein Leben mehr, sagte seine Frau, du stirbst an deiner Magensäure und an deinen schwarzen Gedanken, und ein paar Tage später kam Bela nach Hause, am helllichten Tag; er entlauste die Hunde, flickte die Dachrinne, rupfte das Unkraut im Garten und verzog sich auf den Dachboden seines Elternhauses, um seine Tauben zu pflegen und zu füttern. Am nächsten Tag, in der Morgendämmerung, holten sie ihn ab, zu zweit und bewaffnet — meistens holen sie die Männer nachts, hat Tante Icu erzählt, sie kommen zu Fuss oder mit dem Fahrrad, die stillen Schritte, die nichts Gutes bedeuten, der allzu behutsame Tritt in die Pedale — dann nehmt mich doch mit, ihr Hunde, ihr Schweine, soll Bela geflucht haben, auf Serbokroatisch, aber sagt mir vorher noch, für welche Nation ich sterben soll. Für Serbien! Grossserbien! rief einer der Soldaten, für wen denn sonst, du weltfremder Taubenzüchter!
Dalibor nimmt meine Hand, lass uns zum Bootshaus gehen, und wir stehen auf, schauen uns in die Augen, als wir stehen, weisst du, dass du eine undefinierbare Augenfarbe hast, sagt er, ich sehe mir selten in die Augen, antworte ich, das ist seltsam, dass dir das noch nie aufgefallen ist, so Dalibor, ich möchte in deinen Augen versinken, in diesem vielfarbigen Meer, und ich, die aufhorcht, frage, warum willst du das, denk dir nichts dabei, antwortet Dalibor, streichelt mit dem Daumen meine Handfläche, und wir gehen los, die Kieselsteine, die unter unseren Schritten knirschen, und ich, die im Vorbeigehen ein paar bekannte Gesichter grüsst, wir gehen am Brunnen vorbei, zwei Kinder, die mit dem Wasserstrahl spielen, uns mit verschmitzten Augen anspritzen, Dalibor, der sich fallen lässt, so tut, als hätte ihn der Wasserstrahl verletzt, die beiden Kinder, die kichern, weiterspritzen, bis Dalibor wieder aufsteht, ihnen mit den Fingern zuwinkt, und wir gehen an der grossen Wiese vorbei, die im Sommer mit Badetüchern übersät ist, jetzt ganz still und unberührt daliegt, was könnte man tun, frage ich, als wir uns ins Bootshaus setzen, wo wir ungestört sind, die Sicht auf den See schön ist, du meinst für deinen Cousin, fragt Dalibor, für meinen Cousin, meine Familie. Ich glaube nicht, dass ich dich verstehe, sagt Dalibor, weil ich fatalistisch bin (und es dauert eine Weile, bis ich ihn verstehe, da ich das englische Wort für "fatalistisch" nicht kenne), du kannst die Ärzte ohne Grenzen unterstützen, Amnesty International, Organisationen, die sich für unabhängige Medien einsetzen, tu das, sagt Dalibor, und du tust es für dich, was völlig in Ordnung ist, it's okay, du kannst niemandem direkt helfen, das ist dein Los, und Dalibor, der uns eine Zigarette anzündet, ja, du bist fatalistisch, antworte ich, lege meine linke Hand auf seinen Rücken; habe ich das Gegenteil behauptet? fragt Dalibor nach einer Pause, was erwartest du von mir? Wieso glaubst du, dass ich etwas von dir erwarte? und ich ziehe meine Schuhe aus, weil ich frieren möchte, ich will spüren, wie meine Zehen kalt werden auf dem Holzboden, um dann meine Füsse zu wärmen, an Dalibors Füssen, ich will, dass er spürt, dass er mich wärmt. Ich glaube schon, dass du etwas von mir erwartest, und Dalibor schaut mich nicht an, sondern den morschen Boden des Bootshauses, der See, der in den Ritzen der Holzbretter schaukelt, dunkelgrün, fast schwarz, du glaubst zumindest, ich wüsste Bescheid, über den Krieg, aber ich weiss nur, dass dieser Krieg, wie jeder andere auch, so schnell wie möglich beendet werden müsste, statt dass wir dauernd darüber debattieren, was für eine Art Krieg der Krieg auf dem Balkan ist. Wenn nicht andauernd alle Politiker darüber reden würden, wie kompliziert die Situation auf dem Balkan ist, dann könnte jetzt das Schlimmste noch vermieden werden — Ildi, warum hast du deine Schuhe ausgezogen? und Dalibor schaut mich jetzt an, mit diesen Augen, die in meinen Augen versinken wollen, und ich, ich lasse meine Zehen unter seinem Hosenbein verschwinden, sie wollen ganz nah bei dir sein, meine Füsse, und dir zuhören. Vielleicht sollte man wirklich mit den Füssen hören und nicht mit den Ohren, sagt Dalibor lachend, nimmt meine Hände, küsst sie, Handflächen und Fingerkuppen, und er atmet ein paar Mal in meine Hände hinein, bevor er sagt, womöglich würde man mit hörenden Füssen andere Entscheidungen treffen, man würde ziemlich sicher anders hören, und ich wäre heute ein fliegender Mensch, ein Akrobat, der ich eigentlich werden wollte, das wäre mein Traumberuf gewesen, ein Artist der Lüfte, Ildi, das wäre ich und kein Ylikbter, der sich in seiner endlosen Zeit dauernd vergeblich vorbetet, dass er zum Töten gezwungen worden ist.
Wir haben uns ziemlich genau ein halbes Jahr getroffen, Dalibor und ich, meistens am See, im Bootshaus, das nicht mehr benutzt wird, haben wir uns ausgezogen, manchmal hastig, um der Scham nicht genügend Zeit zu lassen, wir haben uns selten geküsst, weil es die intimste aller Berührungen ist, so sagte er, so sagte ich; und ich blickte verstohlen auf seinen Körper, auf seine Hüften, die verboten schlank waren, auf Arme, die in ihrer muskulösen Ausgezehrtheit eine andere Geschichte erzählten als: Wir werden dich über die Schwelle tragen. Und ich, die seinen hastigen Atem spürte, dessen Rhythmus irgendwo in der jüngsten Vergangenheit ins Stocken geraten war; es geht nicht, sagte er, es wird nicht gehen! und die Verzweiflung hatte sein Gesicht, ich habe dich kennengelernt, um zu merken, dass es nicht geht. Was geht nicht, fragte ich, und ich wusste, dass die Frage sinnlos war, es braucht Zeit, sagte ich, es geht vielleicht nicht von heute auf morgen, aber irgendwann wird alles leichter, glaub mir.
Und er, der Flüchter, zog mich zu sich hin, verbarg seine Augen hinter den Lidern, verschwand mit seinem Mund an meiner Schulter, schluchzte, sein nackter Körper, der die unbändige Sehnsucht hatte, ganz nah bei mir zu sein, eine Sehnsucht, die plötzlich in etwas Feindliches kippte, und Dalibor sah mich an, mit verbrauchten Augen, als hätten wir uns nichts mehr zu sagen, als hätte er nie meinen Hals in einer Art gestreichelt, die mich an die schönste, mildeste Frühlingsluft erinnerte, eine Luft, die die feinsten Härchen auf der Haut spürbar macht; hast du nicht gesagt, du hättest dich in mich… und Dalibor schaute mich an, mit diesen Augen, rezitierte ein Gedicht in seiner Sprache, das ein Freund von ihm geschrieben hatte, er übersetzte es auf Englisch und sagte dann, ja, ich habe mich in dich verliebt, gerade deswegen.