Und ich, die in den nächsten Tagen nach der Arbeit am Bahnhof stand, in der Telefonzelle, versuchte, Dalibor anzurufen, wählte die Zahlen, die Nummer, ich hängte auf, wenn sich eine fremde Stimme meldete, Dalibors Cousin, die Stimme, die irgendwann einmal, ohne dass ich gefragt hätte, sagte, Dalibor ist nach Dubrovnik gefahren, er lässt Sie grüssen, und er kommt zurück, ganz bestimmt.
Mit dem Zug sind wir durch die Nacht gefahren, wir sind sicher immer wieder eingenickt, Sie haben uns manchmal zugedeckt, mit einer Strickjacke, haben uns gestreichelt, mit Ihrer weichen Hand, und ich glaube, dass Sie kaum geschlafen haben, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass ich wach gewesen bin und Sie geschlafen haben; wir haben gedöst, geschlafen, gegessen und sassen ganz still, als die Grenzpolizisten uns musterten, uns und unsere Papiere, und wenn sie irgendwas gesagt haben, in einer uns unbekannten Sprache, haben Sie Ihre Hände gezeigt, die Schultern hochgezogen, und ich vermute, dass wir sehr glaubwürdig aussahen in unserer angstvollen Unsicherheit, die Grenzpolizisten gaben uns ernst, manchmal aber auch lächelnd unsere Papiere zurück, gaben uns also die Erlaubnis, unsere Reise fortzusetzen, und als der Zug weiterfuhr, hielt ich Ausschau nach dem festlichen roten Band, das ich mir in meinem Kinderkopf als Grenze vorgestellt hatte, aber ich sah nur einen grell beleuchteten Bahnsteig, ein paar Uniformierte, die hin und her gingen, an eine grosse Bahnhofsuhr kann ich mich erinnern, eine geschlossene Imbissbude, wir fuhren weiter in die Nacht hinein, in einem neuen Land, jetzt sind wir schon bei den Österreichern, haben Sie gesagt, die Nacht, die uns mit ihrer Dunkelheit fraglos aufnahm (später werde ich mich immer wieder daran erinnern, an meine erste, naive Vorstellung von einer Grenze; jedes Mal, wenn wir mit dem Auto in die Vojvodina oder zurück in die Schweiz fahren, suche ich etwas, das zu diesem festlichen roten Band passt, aber da gibt es nie etwas, ausser Wachtürmen, patrouillierenden Soldaten, die ihre Waffen so selbstverständlich tragen wie ein Paar Schuhe, Wachhunde, die an ihren Leinen ziehen, und meistens wehen an den Grenzen Fahnen oder hängen schlaff an Stangen nebeneinander, die Steine, die Büsche, das Gras, die wenigen Bäume kommen mir farblos vor, unnatürlich, und die Frage bleibt, warum eine Grenze nur eine vielschichtige, nüchterne Drohung ist).
Ein Mann hat die Schiebetür aufgestossen, hat seinen Rucksack verstaut und sich in unser Abteil gesetzt, und Nomi und ich, wir haben ihn gemustert, wir waren so neugierig auf diesen Mann, der ja ein Österreicher sein musste, wir Hessen ihn nicht aus den Augen, als er ein belegtes Brot, eine Thermosflasche aus seinem Rucksack packte, könnt ihr eure Augen wieder einmal woanders hinpflanzen, haben Sie gesagt und an unseren Ärmeln gezupft, als wir den Mann trotzdem weiter beobachteten, er sieht ein bisschen aus wie Nándor, hat Nomi mir zugeflüstert, findest du? aber es kann ja nicht Nándor sein, wenn er ein Österreicher ist, habe ich lachend geantwortet, und der Mann hat uns Süssigkeiten angeboten, uns und Ihnen, wir haben Sie angeschaut, ob wir dürfen, dann haben wir schüchtern unsere Hände nach den Keksen ausgestreckt, der Mann hat irgendetwas gesagt, wir haben genickt, uns in unserer Sprache bedankt, und er hat geantwortet, auf Ungarisch, natürlich sind wir erschrocken, bis wir gemerkt haben, dass der Mann nur ein paar Brocken Ungarisch spricht. Sie haben ihm, nach den Keksen, von unseren Hühnerbeinen angeboten, und unsere Münder glänzten ölig im schummrigen, gelben Licht des Abteils, und für ein Mal durften wir alles durcheinanderessen, Hauptsache, die Zeit geht ein bisschen schneller vorbei, haben Sie gesagt, und plötzlich hat der Mann seine Sachen in seinen Rucksack gestopft, hat die Schiebetür aufgerissen, und im nächsten Moment klopfte er gegen das Fenster, hat sich lachend und winkend von uns verabschiedet.
Es war auf jeden Fall hell, als wir angekommen sind, ob es Morgen war oder bereits Mittag oder sogar später, weiss ich nicht. Mutter und Vater haben am Bahnhof auf uns gewartet, auf dem Bahnsteig. Mutter hat gewinkt, als sie mich aussteigen sah. Ich habe Ihnen beim Aussteigen geholfen, Nomi, Sie und ich, wir standen schon da mit unserem Gepäck, als Mutter und Vater ihre Arme öffneten, lange nichts sagten oder vielleicht nur: Endlich seid ihr da! und ich weiss, dass sich die Arme um mich schlangen, dass ich die Freude spürte, die Erleichterung meiner Eltern, aber ich weiss, dass ich Ihre Hand nicht loslassen wollte, ich weiss nicht, ob ich noch etwas anderes wollte, als in Ihrer Nähe bleiben, Mutter, die Tränen in den Augen hatte, Vater, der Nomi hoch in die Luft warf; ich weiss nicht, ob ich es mir einbilde oder ob es so war, dass ich damals schon, als wir angekommen sind, geahnt habe, dass es zwischen mir und meinen Eltern eine unaufholbare Zeit geben würde, und für Nomi würde das nicht im gleichen Ausmass so sein, vermutlich weil sie zwei Jahre jünger ist.
Vater hat sich das Gepäck aufgeladen, Mutter hat ihre Arme um unsere Schultern gelegt, ihr müsst müde sein, hat sie bestimmt gesagt, zu Hause essen wir etwas Schönes, und dann müsst ihr euch ausruhen.
Mamika, ich versuche mich zu erinnern, wie es war, dieses Ankommen im neuen Zuhause, die neue Wohnung, das neue Bett, die neuen Spielsachen, eine Toilette zu haben in der Wohnung, einen Fernseher, ein Telefon; wie war es denn, die Tür zu öffnen und in eine völlig fremde Welt einzutreten, in eine Mietwohnung, die mehr kostete als Mutter in einem Monat verdiente? was ist in mir vorgegangen, in Nomi, als wir den asphaltierten Vorplatz sahen, die Zierpflanzen in den Fenstern, auf den Balkonen, den Spielplatz hinter dem Haus? Sooft ich mich an den ersten Tag, die ersten Tage in der Schweiz zu erinnern versuche, es gelingt mir nicht, die Erinnerung bricht da ab, am Bahnhof, als wir am Bahnsteig standen, von Mutter und Vater abgeholt wurden.
Ich erinnere mich aber sehr genau, dass wir uns in dieser Zeit, nach ein paar Tagen, oder Wochen? verirrt haben, Sie und ich, wir gingen am See spazieren, wir haben die Schwäne bewundert mit ihren langen Hälsen, wir haben erstaunt zugeschaut, wie die Schwäne und Enten mit Brot gefüttert wurden, wir sind bei jedem Abfalleimer stehen geblieben, haben sogar in sie hineingeschaut, so schön und gepflegt kamen sie uns vor, und weil es an dem Tag oder einen Tag zuvor geschneit hatte, habe ich bei jeder Bank, an der wir vorbeikamen, Schneezeichnungen gemacht, und Sie müssten erraten, was ich gezeichnet hatte, wir waren so vertieft darin und in alles, was wir sahen, dass wir plötzlich nicht mehr wussten, wo wir waren, und es war bereits dunkel, wir müssen jemanden fragen, haben Sie gesagt, aber was? was sollen wir fragen und wie? wir wussten nur, in welcher Strasse wir wohnen, und Sie haben "Entschuldigen Sie" gesagt, auf Ungarisch, haben die Hand ausgestreckt, als eine Frau mit zwei Einkaufstaschen auf uns zukam, Todistrass, haben Sie gesagt und die Schultern hochgezogen, die Frau hat den Kopf geschüttelt, hat irgendwas gesagt und ist weitergegangen. So ging das eine ganze Weile, niemand schien die Todistrass zu kennen. Unsere Finger waren steif, und ich erinnere mich, dass Ihre schmale Nase ganz rot war, Ihre Augen vor Aufregung glänzten, als Sie einen älteren Herrn ansprachen, wieder nach der Todistrass fragten; der Herr, der eine merkwürdig flache Kappe trug, lächelte, er zeigte mit dem Finger in die Nacht hinein, sagte Tödistrasse, und als er merkte, dass wir mit seinem ausgetreckten Finger nicht viel anfangen konnten, führte er uns durch die Strassen, an Ampeln vorbei, einen Hang hoch, bis wir vor unserem Haus standen, Vater, der schon rauchend vor der Garage wartete, auf uns einschimpfte, nachdem er sich beim Herrn für seine Hilfe bedankt hatte.