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Sie und ich, wir haben nachher jeden Tag darüber geredet, über diesen winzigen Unterschied, o oder ö, dass das niemandem aufgefallen war ausser diesem einen Herrn, das hat uns erstaunt, erschreckt, und wir haben geübt: Tödistrasse, Tödistrasse, wie wenig es doch braucht, und man ist ganz verloren in der Welt, haben Sie gesagt.

Mutter und Vater haben tagsüber gearbeitet, Nomi und ich, wir haben mit Ihnen gekocht, die Wäsche gemacht, wir sind zum Spielplatz gegangen, hinter dem Haus, eine Rutschbahn, zwei Schaukeln, ein abgedeckter Sandkasten, wir Hessen den Schnee schaukeln, wir haben Eier geformt, aus Schnee, legten sie auf die Stufen der Rutschbahn, wo sind die Hühner, hat Nomi gefragt, warum kräht kein Hahn? warum sieht man niemanden? Das Erstaunen darüber, dass es so still war, so still und so schön, als gäbe es eine geheime Übereinkunft darüber, dass die Dinge, die uns umgaben, nur dazu da sind, um von uns bestaunt zu werden, in ihrer Schönheit. Und wir haben weitergespielt, auf dem Spielplatz, aber wir wagten nicht, auf den Zaun zu steigen, der an den Spielplatz grenzte, sicher auch deshalb, weil wir neu waren und nichts Falsches machen wollten, weil wir nicht wussten, ob dieser Zaun auch uns gehörte oder nicht, wir benehmen uns am Besten so, als wären wir Gäste, haben Sie gesagt, und mit der Schneeschaufel, die tagelang am Hinterausgang an der Wand lehnte, spielten wir erst, als wir begriffen, dass sie dem Hauswart gehörte, und der Hauswart, das waren Mutter und Vater, die die Hauswartstelle übernommen hatten, um noch etwas dazuzuverdienen, zu ihren minimalen Löhnen.

An den Abenden sassen wir zusammen am Küchentisch, assen das, was Nomi, Sie und ich gekocht haben, Gerichte, die wir sowieso schon immer zusammen gekocht hatten; das ist schön, am Abend nach Hause zu kommen, in eine warme Küche, hat Mutter gesagt und wollte mich umarmen, ich hängte mich an Ihren Rockzipfel, drehte mein Gesicht weg, in den warmen, dunklen Stoff Ihres Rockes, weg von Mutters Wunsch, mir nah zu sein, denke ich heute, meine grausame Direktheit, Mutter zu zeigen, dass nicht sie meine Mutter war, sondern Sie, Mamika, und wenn Vater sagte, du bist gross genug, um Mamikas Rockzipfel loszulassen, habe ich ihm in die Augen geschaut, es war mir vollkommen gleichgültig, was Mutter und Vater sagten, und Sie, Sie haben nur gesagt, lasst das Mädchen in Ruhe, sie braucht Zeit.

Ich fahre nach Hause, ich muss, meine Tiere, der Garten, haben Sie gesagt, und der Herr Pfarrer vermisst mich bestimmt schon in seiner Kirche, und ich habe Sie angeschaut, als verstünde ich Sie nicht, und Sie haben Ihre Tasche gepackt, Sie haben Ihre schwarzen Kleider in die Tasche gelegt, die Strickjacken, ich glaube, Sie haben mich darum gebeten, etwas für Sie zu zeichnen, aber ich habe nichts gezeichnet, und wenn, haben Sie mich nur ein Mal darum gebeten und dann nicht wieder, Sie haben mich in die Arme genommen, am Abend vor Ihrer Abreise — ich weiss nicht, ob Nomi auch dabei war —, haben ein Lied gesungen, ich habe Ihre Stimme in meinem Körper gespürt, und alles in mir hat sich geweigert, Sie gehen zu lassen, und erst als der Zug wegfuhr, habe ich begriffen, dass das der wirkliche Abschied war und nicht der in der Vojvodina, als all unsere Verwandten uns besucht haben oder wir sie, als uns alle irgendwas zusteckten, uns mit Händen und feuchten Augen küssten, sogar am Tag unserer Abreise blitzte der Abschied nur auf, als Nomi wegen dem Reisigbesen weinte, den sie nicht mitnehmen durfte und ich wegen meiner Lieblingskatze Cicu; jetzt, wo Sie im Zug wegfuhren, war es so, wie wenn meine ganze bisherige Welt von mir wegfahren würde, Ihr Haus, Ihr Garten, die geliebten Tiere, der Staub und Dreck, der bleiche Herr Pfarrer in seiner dunklen Kirche, das Stimmengewirr auf dem Markt, der schwere, süsse Duft nach frischen Pfannkuchen, Palatschinken, Onkel Piris Augen, die schönsten Augen der Welt, so fanden Nomi und ich, Tante Icu, die uns mit Süssigkeiten verwöhnte, an den Wochenenden, die wir bei ihr und Onkel Piri verbrachten, damit Sie die frühe und späte Messe besuchen konnten; ich habe mit einem Mal alles vermisst, die lauten Stimmen der Menschen, die ihre Zähne zeigten, die staubigen Strassen und die Pappeln, die Pappelblätter, die so zärtlich waren mit der Luft — ich habe alles, was ich geliebt habe, mit Ihrer Abreise verloren, aber als Nomi mich am Abend fragte, vermisst du sie? bist du traurig? blieb ich stumm.

Später, in den wenigen Momenten, wo es möglich gewesen wäre, über diesen plötzlichen Abbruch unseres bisherigen Lebens zu reden, war immer sofort klar, dass Mutter und Vater, im Zusammenhang mit unserer Heimat, die tieferen, schmerzhafteren Gefühle für sich beanspruchen durften; das, was in Nomi und mir damals vorging, hatte wenig oder kein Gewicht.

Hände in der Luft

Ein grosser, unauffällig gekleideter Mann bleibt vor dem Buffet stehen, räuspert sich, Fräulein, sagt er, mit einer Stimme, die wieder in den Hals zurückmöchte, Fräulein, darf ich Ihnen etwas sagen? Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass der Mann mich angesprochen hat, aber statt auf ihn schaue ich auf seinen Hemdkragen, auf seinen dunkelroten V-Ausschnitt-Pullover, vielleicht ein Musiklehrer, ein schüchterner, denke ich, ja bitte? und ich schaue ihm jetzt ins Gesicht, der Mann, der sich nochmals räuspert, nach hinten blickt, als müsste er prüfen, was sich hinter seinem Rücken abspielt, und er beugt sich jetzt vor über die Theke, in meine Richtung, winkt mich zu sich heran, spricht so leise, dass ich nochmals nachfragen muss, wie bitte? und er lächelt, als er sagt, Fräulein, schauen Sie sich doch mal Ihre Toilette an, er lächelt so eigenwillig charmant, dass ich mich, was ungewöhnlich ist, mit dem schüchternen Lehrer unterhalten möchte, es ist doch nicht meine Toilette, antworte ich, das Personal hat eine eigene, im Keller, sage ich genauso charmant und mit einer Stimme, als würde ich ihm ein Geheimnis verraten. Fräulein, ich, sagt der Mann, wie soll ich sagen… seine komische Schüchternheit, die mich von meiner trüben Stimmung ablenkt, sagen Sie es einfach, unterbreche ich ihn, ich kann nicht, sagt er, ich, die lachen muss, entschuldigen Sie, aber Ihre Art bringt mich zum Lachen, der Mann, der sich im nächsten Moment mit einem hochroten Kopf verabschiedet, sich wieder an seinen Platz setzt, ganz vorne, neben dem Eingang, und ich merke erst jetzt, dass Toiletten sich nicht unbedingt dazu eignen für ein scherzhaftes Gespräch.

Was wollte der, fragt mich Nomi, irgendwas scheint mit der Toilette nicht in Ordnung zu sein, antworte ich, Nomi, die meint, sie werde nachschauen, mach ich selber, sage ich, ob sie einen Moment lang klar komme ohne mich oder ob ich Mutter rufen solle, nein, geht schon, antwortet Nomi, und ich lege meine Buffetschürze auf den Stuhl, gehe in die Küche (und im ersten Moment, wenn ich in die Küche komme, sehe ich immer noch, wie Dragana am Spülbecken steht, in die Salatblätter hineinweint, leise, fast unhörbar, ihr Rücken, der von ihrem Schmerz erzählt, von der Angst um das Leben ihres Kindes, ihrer Familie, ich kann nicht hier bleiben und warten, bis die meinen Sohn erschiessen, sagte Dragana, obwohl — es gäbe auch eine Hoffnung, denn wenn ihr Sohn verletzt würde, könnte er vielleicht aus Sarajewo geschleust werden, verletzten Kindern werde am ehesten geholfen, und ich, sprachlos darüber, was zur Hoffnung werden kann, Dragana, die seit einer Woche nicht mehr zur Arbeit erschienen, unauffindbar ist), darf ich dir rasch eine Geschichte erzählen, fragt mich Marlis, als ich eine dreckige Küchenschürze anziehe, später, sage ich, versprochen? versprochen! und ich nehme den Schrubber, den Eimer, die Lappen aus dem Putzschrank, die Plastikhandschuhe, die gelben, und ich warte auf einen günstigen Moment, wo ich unbemerkt mit Schrubber, FJmer, Lappen und Plastikhandschuhen in der Herrentoilette verschwinden kann (es brauchen ja nicht alle zu sehen, wenn wir die Toilette reinigen), ich, die die schwere Tür mit den Schultern aufstösst und als erstes ihr Gesicht im Spiegel sieht, ich bleibe stehen, höre, wie sich die schwere Tür lautlos hinter mir schliesst, sehe den Schrubberstiel neben meinem Kopf, ich, mit hochgestecktem Haar, schaue mir in die Augen, und es fällt mir ein Wort ein, Einfaltspinsel, wahrscheinlich wegen dem Schrubberstiel, und ich sehe im Spiegel nicht nur mich, sondern das, was das Fräulein erwartet.