paar Blätter, die bereits auf dem Asphalt liegen, vom Kastanienbaum aus schaue ich ins Mondial, ich kann fast nichts erkennen, weil die Fenster spiegeln, und ich, die ein Lied singen möchte, aber es fällt mir keines ein, bücke mich nach einem Blatt, wäre es anders, wenn dieses Blatt nicht hier wäre? und ich gehe mit raschen Schritten zur Unterführung, das trockene Geräusch meiner Turnschuhe, ob ich mir denn schon einmal vorgestellt hätte, wie es wäre, wenn wir jetzt in der Vojvodina leben würden, mitten im Krieg, wie denn unser Alltag aussehen würde, fragt mich Mutter, ihre Summe, die in der Unterführung hallt, feierlich und gross klingt, mein Kopf, der sich automatisch nach links und rechts dreht, zu Schaufenstern hin, ein paar Wollknäuel, Stricknadeln, ein mit "Handarbeit" angeschriebener Pullover, ein paar Spots, die diese kleine Szenerie ausleuchten, wir würden uns bestimmt nicht mit Kleinkram herumschlagen, es ginge täglich um Leben und Tod! Mutter, die sich bekreuzigt, ist das eine Kleinigkeit, wenn jemand seine eigene Scheisse in die Hand nimmt, um sie dann in einer öffentlichen Toilette an die Wand zu schmieren, frage ich das Schaufenster links von mir, in dem Schulhefte ausgestellt sind, Farbstifte, Zirkel in unterschiedlichen Grössen, die Frage, wie man Papier sinnvoll oder wirkungsvoll ausstellen kann, ein Tornister, der an einem Nagel hängt, zwei Katzenaugen, die hinter dem Glas orange leuchten, Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen können, weil die Eltern kein Geld haben, fürs Busticket, und du, Ildi, du könntest deine Ausbildung ziemlich sicher nicht machen, sondern müsstest mithelfen im Schweinestall, Kühe melken, wahrscheinlich müsstest du sogar Männerarbeit machen, du weisst ja, was mit den Männern passiert; und ich, die weitergeht, lasse die Frage hinter mir, ob eine Unterführung ein geeigneter Ort ist für Schaufenster, Mutters Augen, die mich bitten, sie nicht falsch zu verstehen, wenn sie mich jetzt an den Krieg erinnere, aber sie tue das, weil ich den grösseren Zusammenhang zu verlieren drohe, sie müsse mir doch sagen, dass wir hier in Sicherheit lebten, immerhin ein Geschäft führten, und da sei es notwendig, nicht alles an sich herankommen zu lassen, sonst wären wir ja schon lange nicht mehr hier, sagt Mutter. Wie meinst du das? und ich steige die Stufen hoch, zwei Stufen auf ein Mal, überquere den Parkplatz, auf dem nur ein paar vereinzelte Autos stehen, Sonntag in einem Dorf, ein ausgestorbener Sonntagvormittag in einem Dorf, und ich, die eine Münze in eine Parkuhr wirft, um dieses angenehme Geräusch zu hören, wenn die Münze den roten Zeiger wieder auf Null stellt; was meinst du, wie oft haben wir doppelt so viel gearbeitet wie unsere Arbeitskollegen, für weniger Lohn, und das ginge ja noch, die lauwarme Kotze von Hündchen wegzuwischen, das gehörte zum Alltag deines Vaters, als er als Kellner gearbeitet hat, in einem noblen Restaurant, Miklós, das solltest du Ildi erzählen! Die einzige Chance ist, sich hochzuarbeiten, und das, glaub mir, gelingt dir nicht, wenn du dich nicht taub oder dumm stellst. Ich dürfe sie nicht falsch verstehen, wenn sie sage, dass ich es nicht gewohnt sei, Opfer zu bringen, Opfer? Ja, schweigen können, Sachen wegstecken, und wenn hinhören, dann eben nur mit halbem Ohr; hätten dein Vater und ich eine richtige Ausbildung, könnten wir vielleicht — dann hätten wir die Möglichkeit, den Mund aufzumachen, aber so? Weisst du eigentlich, wo wir angefangen haben? die gesichtslosen Tage, fast vier Jahre lang, als die Tage nur dazu da waren, um wie Automaten zu funktionieren, zu arbeiten, Vater als Metzger bei Herrn Fluri und als Metzger auf dem Schlachthof, ich als Kassiererin, Kindermädchen, und sonntags haben wir gemeinsam Banken geputzt. In dieser Zeit, Ildi, habe ich nie geträumt, nie, sonst wäre ich verloren gewesen, und ich gehe weiter, an der Apotheke vorbei, überquere eine Strasse, zu meiner Rechten das Einkaufszentrum, zu meiner Linken ein Kleidergeschäft, dann ein Kiosk, ein Strumpfgeschäft, ein Hotel, gibt es ein Opfer, das zu gross ist? und jemand winkt mir zu, von der anderen Strassenseite her, ich gehe weiter, ohne zurückzuwinken, am Schuhgeschäft vorbei, an einem Schaufenster, in dem Brillengestelle an durchsichtigen Fäden hängen. Als ihr, Nomi und du, so lange Zeit nicht bei uns wart, das war ein grosses Opfer — zu gross? und ich hebe meinen Kopf, schaue zur protestantischen Kirchturmuhr, die Zeiger, die goldgelb leuchten; Vater, der sich mit dem Schwamm in der Hand zu mir dreht, Wasser, das auf den Linoleumboden tropft, ihr wart in guten Händen, sagt Vater, ohne die Lippen zu bewegen, das Restaurant Löwen, das sonntags geschlossen ist, und ich, die vor dem kleinen Schaukasten stehen bleibt, studiere die Speisekarte, die Preise, die Auswahl, wie sieht wohl ein "Ross-Filet-Zauber" aus? und ich gehe weiter, schlage den Kragen meiner Jacke hoch, vor mir das Gemeindehaus, das Polizeirevier, die protestantische Kirche, stimmt, sage ich, wir waren in guten Händen! die beiden Tannen neben der Kirche, die den Turm überragen, immergrüne Pflanzen, denke ich, der Dorfplatz, auf dem früher wahrscheinlich die Bauern der umliegenden Region ihre Waren angeboten haben, auf dem sicher einmal ein Lindenbaum stand, der, wenn er im Juni blühte, allen strengen Ordnungshütern den Kopf verdrehte, und ich, die allein auf dem Dorfplatz steht, höre das gleichmässige Plätschern des Dorfbrunnens, vielleicht hätte das Opfer grösser sein müssen, vielleicht wäre es besser gewesen, ihr hättet noch ein paar Jahre länger auf uns gewartet, Vater, der mich mit sehenden Augen anschaut, Mutter, die von ihrem Hocker aufsteht, was willst du uns damit sagen? Nomi und ich haben uns nie entschieden, hierher zu kommen, nur das; und Mutter, die die Klammer aus ihrem Haar löst, sie an die Brusttasche ihrer Bluse klemmt, Vater, der den Schwamm hinter sich ins Spülbecken wirft, da haben wir es, sagt Vater, deine Mutter hat ganz Recht, wenn sie dich an den Krieg erinnert, stell dir mit deinem Dickschädel nur kurz vor, was das bedeuten würde, und ich, die sagt, dass es nicht darum gehe, ich will unsere Verschiedenheit verstehen, und mir fällt das ungarische Wort für "Verschiedenheit" nicht ein, aber die plötzliche Klarheit darüber, warum man, wenn jemand gestorben ist, sagt, er sei "verschieden", der schwere Stand der Verschiedenheit, denke ich, gehe auf den Polizeiposten zu, vergitterte Türen und Fenster, hallo, ist jemand da, rufe ich, unsinnigerweise, ich klopfe gegen das Schaufenster, wo ein paar Steckbriefe an Magnetknöpfen hängen und amtliche Hinweise der Gemeinde- und der Kantonspolizei, und ich, die sich vorstellt, dass sich Herr Bieri und Herr Brunner, die beiden Dorfpolizisten, die gleichzeitig für die Gesundheitsbehörde arbeiten, hinter den eisernen Vorhängen verschanzt haben, auf ihren gefederten Stühlen herumturnen, sich mit geröteten Wangen die schönsten Fahndungsbilder zeigen, in der sonntäglichen Ruhe ein paar Informationen über gewisse Personen ablegen, warum sagt man eigentlich "Anzeige erstatten"? Herr Bieri und Herr Brunner, die mir diese Frage sicher beantworten könnten, hallo! meine Stimme, die über den menschenleeren Platz hallt, meine Wut, die vor dem Polizeiposten wieder ein Gesicht bekommt, die Schärers oder der Tognoni oder jemand anders, höre ich Mutter sagen, bringt nichts, sich zu fragen, wer es gewesen sein könnte, ausserdem: Wir sind ein Familienbetrieb, wenn jemand einen Fehler macht, müssen alle den Kopf hinhalten, und: Du solltest die Gäste nicht vergessen, die uns mögen, uns unterstützen — ich habe niemanden vergessen! sage ich laut, und wir verkeilen uns ineinander, unser gegenseitiges Unverständnis, wir müssen uns anpassen, sagt Mutter mit diesem Blick, den ich nicht mehr sehen will, an die Scheisse? schreie ich, und wo fängt der Widerstand an? Dein Verstand hockt manchmal am falschen Ort, Ildi, schreit Vater zurück und macht plötzlich einen Schritt auf mich zu, packt meine Hand, zieht mich durch die Küche, am Buffet vorbei, seine ungarischen Flüche, die er in den Gastraum schleudert, nur damit du wieder klar siehst, ruft er, als er im Büro die Schranktür aufreisst, nach seiner Jacke langt, hier, lies! Vater, der mir einen Brief hinstreckt, ein schmales Kuvert, und seine Hände, die zittern, ein Brief von deiner Schwester! Ich schaue auf die Briefmarken, auf Vaters breite Finger, für die der Umschlag zu schwer zu sein scheint, was ist mit Janka, wie geht es ihr, frage ich Vater mit einer Stimme ohne Klang, und ich schaue ihn nicht an, nehme den Brief nicht entgegen. Wie es ihr geht? gut, es geht ihr ausgezeichnet, wie soll es einem Menschen gehen, der sein ganzes bisheriges Leben von einem Tag auf den anderen aufgeben muss? Sie ist mit ihrem Mann und ihrem Kind nach Ungarn geflüchtet, weil ihr Mann auch als Soldat vorgesehen war, bei der jugoslawischen Volksarmee! und weil ihre Arbeit beim Radio ständig zensuriert wurde! Vater, der den Brief wieder einsteckt, nein, ich müsse ihn gar nicht lesen, das Wichtigste sei ja jetzt gesagt und das Zweitwichtigste, Ildi: Nichts ist mehr so, wie es war, in Jugoslawien, die Männer werden eingezogen, wer sein Hirn noch beieinander und die Möglichkeit hat, der flüchtet, und was meinst du, wie es in der Stadt aussieht, wenn so viele Menschen nicht mehr da leben, wo sie hingehören? Jedes dritte Haus steht leer, weisst du, was das bedeutet, wenn nur noch der Friedhof wächst? — Und ich, die zum Brunnen geht, einen Schluck Wasser trinkt, sich das Gesicht wäscht, muss trotzdem etwas tun, ich mache ein paar Schritte, damit ich das Gefühl habe, mitten im Dorf zu stehen, ich schaue nochmals zu den Tannen, zum Kirchturm, greife in die Tasche, meine Hand auf der kalten Aluminiumflasche, ich zeichne mit dem Rahmbläser Grossbuchstaben auf den Dorfplatz, schöne, weisse, schmackhafte, fehlerfreie Buchstaben aus Vollrahm, mein harmloser Kinderscherz für uns, die Familie Kocsis, bevor ich endgültig verschwinde aus diesem Dorf.