November
Ich wohne mitten in der Stadt, an einer Autobahn, meine winzige Wohnung liegt an der so genannten West-Tangente, tausend Autos und hundert Lastwagen fahren stündlich an mir vorbei, Richtung Chur, ich, auf meinem Bett sitzend, denke an Wörter wie "Verkehrsstrom" oder "Verkehrsfluss", mein Boiler in der Küche brummelt, der Stromzähler im Korridor ist einen Tick zu laut, warum eigentlich "West-Tangente", wenn die Autos vom Westen kommen und Richtung Osten fahren, beim Autofahren denkt man doch immer in Fahrtrichtung, oder nicht? "Auspuff der Nation" wird die Strasse genannt, die nicht nur an der West-Tangente liegt, sondern auch "Weststrasse" heisst.
Von einem doppelstöckigen Bus aus, der direkt vor meinem Fenster hält, schauen mich ein paar Kindergesichter mit platt gedrückten Nasen an; ich winke, sie lachen und winken zurück, ein Kind, das eine Zeichnung gegen das Busfenster hält, eine Sonne, ein Regenbogen, Wolken und inmitten von allem: ein Hase, an einer Karotte knabbernd, und ich stehe auf, gehe zum Fenster, strecke meinen Kopf in Fahrtrichtung, um zu sehen, ob ich die Nationalität der Kinder richtig erraten habe, nein, und ich bleibe noch ein bisschen stehen, bin eine Attraktion am Fenster, bemitleidende, belustigte, neugierige Augen, und ab und zu sind die Blicke irritiert, vermutlich, weil ich sie störe, weil ich da wohne, wo man bloss eines wilclass="underline" ungehindert weiterfahren, vorbeifahren. Und ich amüsiere mich über filzige Dufttannen oder über irgendwelche Dackel, die Heckablagen zieren, mit spiraligen Hälsen bei jeder Bodenerhebung wackeln. Ich schaue unverfroren in verkniffene Autogesichter, die sich darüber ärgern, dass der Verkehr nicht fliesst, sondern sich staut, jetzt, um acht Uhr morgens; ich, die Kurt bewundert, Hans, Pavel, Rüdiger und wie sie alle heissen (die einzige Ausnahme: Cindy), die Lastwagenfahrer, die einsam und schwer auf ihren Sitzen thronen, an deren Rückspiegeln kleine Glücksbringer baumeln.
Sie sollten sich Vorhänge zutun, meint die Hausmeisterin, Frau Gründler, das ist doch eine Zumutung, wenn da einem alle ins Schlafzimmer gaffen, nein? also mich würde das stören; Frau Gründler, die mich fast täglich besucht, kurz anklopft und dann schon in meinem Korridor steht mit ihrem Hündchen, Surinam York Hamshire, ich kann Ihnen auch welche nähen, wenn Sie wollen, ich meine, wenn Sie kei Stufig haben, kein Geld. Es stört mich wirklich nicht, antworte ich, wenn ich schlafe, schlafe ich, und wenn ich wach bin, gaffe ich selber oder setze mich in die Küche. Na gut, mal sehen, wie lange Sie das so aushalten, spätestens, wenn Sie einen Freund haben… und Frau Gründler schüttelt ihre Locken, schmeisst ihren Hund auf den Boden, Suri, der sie gewohnt ist, die plötzliche Höhendifferenz, die er abfedern muss, steht aufrecht und mit wedelndem Schwanz da, ich lache, wollen Sie einen Kaffee? Ach, Frau Kotschi, wenn ich Sie nicht aufhalte, und Frau Gründler geht mit forschen Schritten in die Küche, jetzt sieht's ja schon richtig gemütlich aus bei Ihnen, und sie setzt sich, schnauft, Milch und Zucker, frage ich. Heute schwarz, antwortet Frau Gründler, und ich, die uns Kaffee einschenkt, nicht in die Alltagstassen, sondern in die beiden schönen Espresso-Tässchen, die einzigen, die ich besitze. Sie sind ein Schatz, und Frau Gründler nippt, nippt nochmals, fängt dann an zu reden, also was die Kerle gestern Nacht wieder angerichtet haben, Frau Kotschi, das geht auf keine Kuhhaut! Frau Gründler, die in ihre Manteltasche greift, hier, die hab' ich mir gebastelt, nicht, dass ich damit sagen will, ich war' genial, ist ja ganz einfach, und die Hausmeisterin hält mir eine Schleuder hin, aber mit dem Ding hab' ich gestern Nacht einen dieser versoffenen Kerle erwischt, am Bein, Tor! habe ich gerufen, Eins-A-Schuss! Sagen Sie mal, Frau Kotschi, haben Sie mich denn nicht gehört?
Natürlich habe ich die Hausmeisterin gehört, ihr Organ, wie sie selbst sagt, ist unüberhörbar, Frau Gründler, die sich ärgert über die Kerle, die nach Mitternacht aus dem Glarnerstübli stolpern, der Kneipe neben unserem Haus, und bevor sie mit ihrer Bimbe die richtige Richtung finden, müssen sie noch an die Linde pissen, und am Morgen, wenn unsereiner frisch aus dem Haus geht, dampft einem diese Kerlenpisse in die Nase, ist das eine Begrüssung? (Surinam York Hamshire, der ganz hoch bellt, nach einem aufgeregten Vogel klingt, wenn seine Mutti zu wettern anfängt und ich Tränen lache); ich habe dem Wirt vom Glarner heute Morgen schon die Kappe gewaschen, ihm gesagt, dass ich den Kerlen die Eier abschiesse, wenn er sie weiter bis zur Besinnungslosigkeit saufen lässt! Und die Hausmeisterin steckt die Schleuder wieder in ihre Tasche, nimmt noch den letzten Schluck Kaffee, sagt, das war jetzt besser als Aspirin, und Frau Gründler steht mit einem unerwarteten Schwung auf, so, gehen wir?
Ich nehme die Einkaufstaschen der Hausmeisterin, und wir steigen die Treppe hoch, Frau Gründler, die nach ein paar Stufen wieder stehen bleibt, keucht, eine Hand in die Hüfte stützt, wissen Sie was, Frau Kotschi, dieser Fredi ist doch ein geborener Egoist, jedes Mal, wenn ich mich nach oben kämpfe, steht er leibhaftig da, immer zwei, drei Stufen über mir, er grinst mich an, und ich sage ihm alle Schande, ich zeige ihm die Tapete, die abblättert, hier, Frau Kotschi, sehen Sie nur! und hier in der Ecke, die Risse! die feuchten Flecken! und Frau Gründler nimmt meine Hand, zeigt mit ihr auf die schlimmsten Stellen, sagen Sie nur, muss man so einem nicht seine Existenz vorwerfen, da besitzt er ein Haus und lässt es verrotten wie eine faule Frucht, aber die Frucht, die war nicht immer faul, das sage ich Ihnen. Wissen Sie, wie lange ich schon hier wohne? Seit 1965, da war die West noch ein Bischou, eine schöne Quartierstrasse mit Luft und Bäumen; was meinen Sie, warum ich die Linde da unten so verbissen verteidige? Und trotz allem bin ich immer noch vernarrt in dieses Quartier, in mein Haus… das können Sie bestimmt verstehen, Frau Kotschi. Ja klar! und Frau Gründler, die mir gerührt die Hand tätschelt.
Bis wir zuoberst ankommen, trippelt Suri noch unzählige Male an uns vorbei, Treppe rauf und wieder runter, hüpft uns zwischen die Beine, du freches Köterchen, schimpft Frau Gründler lachend, als wir vor der Wohnung der Hausmeisterin stehen, habe ich wieder einmal einiges erfahren, nicht nur über den Hausbesitzer, den Fredi-Kapitalisten (der todsicher darauf spekuliert, dass der Verkehr irgendwann umgeleitet wird und er sein altes Haus dann teuer verkaufen kann), sondern auch über den Wirt des Glarnerstübli, der vermutlich bei den beiden Lokalen "weiter oben" mitmischt, wo die Mädels ihren Hintern schwenken; ich weiss jetzt, dass mein Nachbar, der über mir wohnt, ein Welscher ist, ein netter Kerl mit einem leichten Hick im Kopf, der temporär jobbt und sonst mit seinen Fingern nichts anzufangen weiss, als sie über seine Gitarre rasen zu lassen, den haben Sie bestimmt schon gehört, oder? Ganz allgemein gäbe es bald keine Mieter mehr, die wussten, was Hacktätschli und Wurschtwegge heisst, nicht, dass sie etwas gegen Tschewaptschitschi oder Börek habe, sagt Frau Gründler, ich esse alles und am liebsten etwas, das ich noch nicht kenne, aber ich verbringe halbe Tage, um meinen Jugos, Albanern, Türken und Spaniern mit Händen und Füssen zu erklären, wie die Waschmaschine funktioniert! Ich bin ja keine Dolmetscherin, sagt Frau Gründler, als sie die Tür aufschliesst, Suri in die Wohnung flitzt. So, jetzt setzen Sie sich mal hin und erholen sich von dieser Plackerei, lüften Sie Ihre Ohren von meinem Gequatsche, und ich mache uns eine Erfrischung. Ich, die sich, wie immer, umschauen muss im vollgestopften Wohnzimmer der Hausmeisterin, Bilder, gerahmte Fotografien, die in einem wilden Muster an der Wand hängen, Zimmerpflanzen, die in allen Ecken stehen, ein Ficus, eine Begonie, eine Zimmerlinde, Efeu, welches das Büchergestell einrahmt, in dem zwar Bücher stehen, aber auch Geschirr, Figürchen, Portemonnaies in allen Grössen und Materialien, Briefe, die überall zwischen die Bücher geschoben sind; ich setze mich gegenüber von Suri, der auf seinen mit zwei Kissen erhöhten Stuhl gehüpft ist, zwischen uns das Bistro-Tischchen, Suri und ich, wir schauen aus dem Fenster, vier Stockwerke unter uns, wo der Verkehr langsam vorwärts rollt; sieht fast harzig aus von hier oben, sagt Frau Gründler, als sie den Servierwagen durchs Wohnzimmer schiebt, sich dann neben Suri auf einen mit dunkelgrünem Samt bezogenen Ohrensessel setzt. Ich finde es erstaunlich, dass von oben meistens alles ganz anders aussieht, sage ich, und die Hausmeisterin antwortet lachend, Sie können gern das Fenster öffnen, wenn Sie nicht glauben, dass wir immer noch im gleichen Haus sind, und sie gibt mir einen Teller mit belegten, salzigen Häppchen, und Suri springt in die Luft, schnappt nach einem Stückchen Schinken. Frau Kotschi, sagt die Hausmeisterin, nachdem sie ihrem Hund applaudiert, ihn für seine Sprungkraft gelobt hat, darf ich Sie etwas fragen, ich bin ja eine neugierige Natur, ich darf? gut, Sie sind immer da, wenn ich Sie überfalle… aber Sie sind doch ein junger Mensch… gehen Sie denn nie aus? Was machen Sie an so einem Tag mit seinen vierundzwanzig Stunden? Ich richte meine Wohnung ein, also, ich habe gerade frei und bin deshalb oft zu Hause. Und Sie fahren nicht weg, wenn Sie Ferien haben? und Frau Gründler schluckt ihren letzten Bissen runter, zieht dann ihren Lippenstift aus ihrem Handtäschchen, spitzt den Mund, malt ihn grosszügig an, sagt dann, elende Schminkerei, ohne dieses Kirschrot komme ich mir schon ganz fad vor, und Frau Gründler fährt sich mit dem Zeigefinger über die Zähne, weil die auch immer was abbekommen, aber wegen den Kerlen tu ich's nicht, das sag' ich Ihnen direkt ins Gesicht, die meisten haben sowieso keinen Geschmack… die Jungen von heute reisen doch durch die halbe Welt mit diesem… wie heisst das nochmals, ja genau, Interrail. Ich habe mir vorgenommen, meine Wohnung langsam einzurichten, antworte ich, damit sich meine Sachen allmählich an die neue Umgebung gewöhnen, und ich stehe auf, strecke der Hausmeisterin meine Hand hin. Wie Sie das jetzt gesagt haben, Sie müssen sich doch sicher auch — nicht nur Ihre Sachen, und Frau Gründler schiebt den Unterkiefer etwas nach vorn, gibt mir ihre Hand. Ja natürlich… vielen Dank für die Erfrischung, und kommen Sie bald wieder, ich bin meistens für Sie da, sage ich lachend und bin weg.