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Vor knapp drei Wochen bin ich ausgezogen, was das auch immer heisst, ich stand stundenlang mit Mutter, Vater und Nomi im Wohnzimmer, im Korridor, dann in der Küche und in meinem Zimmer, Vater hat den Kopf geschüttelt, hat die Kartonschachteln mit ungläubigen Augen angefasst, mich angeschaut, wir haben doch genügend Platz hier bei uns, hat er leise gesagt, und er kam mir so klein vor, Vater, mit seinen geröteten Augen, aber ich habe auch geweint, wir alle; und Vater wollte ständig ein Foto von mir machen, ich, dann ich und Nomi, ich mit meinen Kinderzeichnungen, ich mit meinen Möbeln, die ich, ausser das Bett, nicht mitnehmen wollte. Was sollen denn die Möbel ohne dich, hat Mutter gesagt, und in dem Moment wurde Vater fast wütend, das kannst du uns nicht antun, das ist doch eine schlechte Erinnerung, Möbel, die niemand mehr braucht, und Nomi hat geantwortet, wir könnten sie doch in den Keller runtertragen, jetzt gleich, da sei genügend Platz, und wenn wir irgendwann wieder Besuch bekämen, dann wären wir doch froh um die Möbel. Und komischerweise haben Mutter und Vater sofort eingewilligt, wir haben zusammen den Schrank, das Büchergestell, den Schreibtisch, die Kommode in den Keller transportiert, jedes Möbelstück zu viert und nach langem Hin und Her, wie es wohl am Besten, am Einfachsten ginge. Als dann Vater im Luftschutzbunker die mit hellen Leintüchern abgedeckten Möbel sah, rief er, nein, nein, ich kann nicht hinschauen, wir haben uns Geister ins Haus geholt! Jetzt hör aber auf, hat Mutter geantwortet, das sind Ildis Möbel, die auf Besuch warten!

Hier in der Schweiz ist das normal, das Ausziehen, alle ziehen hier früh aus, mit sechzehn oder siebzehn, selten ist jemand älter als zwanzig, das gehört zum Erwachsenwerden, haben Nomi und ich immer wieder unseren Eltern zu erklären versucht, auf Deutsch und Ungarisch, und wir wussten beide: es würde ausbleiben, das Verständnis von Mutter und Vater, dass man unverheiratet auszieht, es vorzieht, in einem "Loch" zu wohnen, wo man doch die Möglichkeit hat, an einem Ort zu leben, wo alles da ist. Aber erst an dem Tag, als ich meine Sachen in die Kartonschachteln packte, ahnte ich, dass es noch um viel mehr ging: Um eine tiefe Scham, die Mutter und Vater wahrscheinlich für meinen Auszug empfanden, was würden unsere Verwandten dazu sagen? in ihren Augen konnte ich lesen, dass mein persönlicher Aufbruch für sie die Abkehr von der Familie bedeutete, und dafür fühlten sie sich verantwortlich, nicht nur ein bisschen, sondern ganz (Mamika, die mir ins Ohr flüstert, denk eine Sache nicht von dir aus, sondern von allen möglichen Seiten), und ich habe meine Eltern angeschaut, nochmals angesetzt, es hat wirklich nichts mit euch zu tun… habe ich gesagt und bin verstummt, weil ich einsah, dass es keine lindernden Worte geben würde, das Wesentliche blieb unübersetzbar.

Mutter hat dann gekocht, mein Lieblingsessen, gebratenes Huhn mit Paprikakartoffeln, Gurkensalat mit Sauerrahm, und zum Nachtisch gab es Palatschinken, und weil niemand wirklich Appetit hatte, hat Mutter alles eingepackt, damit ich am nächsten und übernächsten Tag nicht zu kochen brauche. Ich habe Vater gebeten, Kaffee zu machen, weil ich den Kaffee, so wie er ihn zubereitet, am liebsten mag; ich habe ihm zugesehen, beim Kaffee-Mahlen, wie er das Papier sorgfältig in die Filterform einpasste, wie er mit seinem Daumen über den Messlöffel gefahren ist, die Geduld, mit welcher Vater das heisse Wasser kreisend über das Pulver goss; wir können dich in nächster Zeit nicht besuchen, sagte Vater, während der Kaffee in die Kanne tropfte, das musst du verstehen.

Um Mitternacht ziehe ich meine Jacke an, öffne die Fenster, lüfte, die Weststrasse, die von Mitternacht bis sechs Uhr in der Früh gesperrt ist, ich schaue links die Strasse hinunter, sehe den Radfahrern zu, die in die Gegenrichtung radeln, manchmal freihändig, manchmal lauthals singend, und ich rauche eine Zigarette in die kalte Novemberluft hinaus, der Wirt des Glarnerstübli, der jetzt seine Stammkunden ins Freie scheucht, meistens fünf Männer, die sich am Treppengeländer abstützen müssen, um die drei Stufen heil zu überstehen; und wenn sie dann die Linde anpeilen, meine Hausmeisterin im nächsten Moment losschimpft, schliesse ich das Fenster und höre meinen Nachbarn, der immer noch am Üben ist, Laurent Rosset, den ich schon in der ersten Woche, nachdem ich eingezogen bin, im Treppenhaus getroffen habe, der mir, kaum haben wir uns vorgestellt, sein Lebensziel verraten hat, nämlich irgendwann einmal so Gitarre spielen zu können wie Jimi. Jimi? du weisst nicht, wer Jimi war, es gab nur einen Jimi auf dieser Welt, und Laurent hat mich noch am gleichen Abend zu sich eingeladen, mir seine Plattensammlung gezeigt, seine Grasplantage auf dem Küchenbalkon, ein paar ausgewählte Bücher über Georges Bataille und natürlich Jimi Hendrix, und: Setz dich, ich spiel dir was vor! Wie bin ich? Laurents Frage, nachdem er mir Jimis Hits vorgespielt hat, Foxy lzady, Wild Thing, Fley Joe, Voodoo Child und alles gleich nochmals, weil Laurent sich erst mal warm spielen musste. Ich glaube, du bist schon besser als Jimi, habe ich geantwortet. Comment? impossible! ob ich ihn verarschen wolle, sagte Laurent, er werde nie besser sein als Jimi, das wisse er; und ich, die einen gedankenlosen Spruch gemacht hatte, bin unangenehm berührt, weil ich Laurent tatsächlich nicht ernst genommen hatte, in seiner Liebe zu Jimi Hendrix.