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»Das ist keine gute Idee«, sagte Khadija. »Er ist alt und…« Sie suchte nach einer treffenden Formulierung, doch Mariam hatte längst begriffen, worum es ging. Eine solche Gelegenheit wird sich dir womöglich kein zweites Mal bieten. Und Ähnliches galt für die drei Frauen. Ihnen bot sich die Gelegenheit, die Schande, die Mariams Geburt über sie gebracht hatte, ein für alle Mal zu tilgen, den skandalösen Fehltritt ihres Mannes vergessen zu machen. Sie, Mariam, sollte weggeschickt werden, weil sie der lebende Beweis ihrer Schande war.

»Er ist alt und schwach«, sagte Khadija schließlich. »Was willst du tun, wenn er nicht mehr ist? Du wärst seiner Familie bloß eine Bürde.«

So wie du uns eine bist. Mariam konnte die unausgesprochenen Worte vor Khadijas Lippen buchstäblich aufsteigen sehen wie Atemluft an kalten Tagen.

Mariam stellte sich ein Leben in Kabul vor, in der großen, fremden, übervölkerten Stadt, die, wie Jalil ihr einmal erklärt hatte, rund sechshundertfünfzig Kilometer entfernt im Osten von Herat lag. Sechshundertfünfzig Kilometer. Die zwei Kilometer von der kolba bis zu Jalils Haus waren die längste Strecke, die sie jemals zurückgelegt hatte. In Gedanken versetzte sie sich ans andere Ende dieser fast unvorstellbar weiten Entfernung, in das Haus eines Fremden, der nach Lust und Laune über sie verfügen könnte. Sie würde für diesen Raschid putzen, kochen und waschen müssen, und nicht nur das — von Nana wusste sie, was Ehemänner sonst noch von ihren Frauen verlangten. Und gerade dies stellte sie sich so entsetzlich vor, dass ihr vor Angst und Schrecken der Schweiß ausbrach.

Wieder wandte sie sich an Jalil. »Sag ihnen, dass sie so etwas nicht mit mir machen dürfen, dass du das nicht zulässt.«

»Dein Vater hat Raschid schon sein Wort gegeben«, sagte Afsoon. »Raschid ist hier, in Herat, von Kabul angereist. Morgen früh wird die nikka sein, und gegen Mittag fahrt ihr mit dem Bus nach Kabul.«

»Sag’s ihnen!«, platzte es aus Mariam heraus.

Die Frauen waren jetzt still. Mariam bemerkte, dass auch sie ihn beobachteten. Das Schweigen lastete schwer. Jalil befingerte seinen Ehering. Er wirkte gequält und hilflos. Die Uhr auf der Vitrine tickte.

»Jalil jo«, sagte schließlich eine der Frauen.

Langsam hob Jalil den Kopf. Er schaute Mariam in die Augen, wich ihrem Blick aber bald wieder aus. Er öffnete den Mund, doch alles, was er hervorbrachte, war ein schmerzliches Seufzen.

»Sag etwas«, forderte Mariam ihn auf.

Und das tat Jalil dann, mit dünner, bemühter Stimme. »Verdammt noch mal, Mariam, mach es mir doch nicht so schwer«, sagte er, als wäre er der Leidtragende.

Mariam spürte, wie sich plötzlich alle Spannung am Tisch auflöste.

Jalils Frauen sprachen Mariam wortreich und jetzt mit fast heiterer Miene Mut zu. Sie selbst hatte den Blick gesenkt und musterte die schlanken Tischbeine, die gerundeten Kanten der Platte, den spiegelnden Glanz der polierten dunkelbraunen Oberfläche. Ihr fiel auf, dass, sooft sie ausatmete, die Oberfläche sich eintrübte und ihr Abbild darauf verschwand.

Afsoon geleitete sie zurück in ihr Zimmer. Als Afsoon die Tür zugezogen hatte, hörte Mariam, wie von außen ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.

8

Am nächsten Morgen wurden ihr ein dunkelgrünes Kleid mit langen Ärmeln und eine weiße Hose zum Anziehen gegeben. Afsoon reichte ihr eine grüne hijab und farblich dazu passende Sandalen.

Man führte sie in das Zimmer mit dem langen braunen Tisch zurück. Darauf befanden sich jetzt eine Schale mit gebrannten Mandeln, ein Koran-Buch, ein grüner Schleier und ein Spiegel. Zwei Männer, die Mariam nie zuvor gesehen hatte — Trauzeugen, wie sie vermutete —, und ein Mullah, den sie ebenfalls nicht kannte, saßen bereits am Tisch.

Jalil wies ihr einen Platz zu. Er trug einen hellbraunen Anzug und eine rote Krawatte. Seine Haare waren frisch gewaschen. Als er den Stuhl für sie zurechtrückte, lächelte er ihr aufmunternd zu. Khadija und Afsoon setzten sich an den Tisch, diesmal auf Mariams Seite.

Auf ein Zeichen des Mullahs hin nahm Nargis den Schleier und drapierte ihn um Mariams Kopf, bevor sie selbst Platz nahm. Mariam betrachtete ihre Hände.

»Du kannst ihn jetzt hereinbitten«, forderte Jalil jemanden auf.

Bevor Mariam ihn sehen konnte, nahm sie seinen Geruch wahr, ein süßliches, aufdringliches Rasierwasser, vermischt mit kaltem Zigarettenrauch. Durch den Schleier sah sie am Rand ihres Blickfeldes einen kleinen Mann mit rundem Bauch und breiten Schultern in der Tür stehen. Sein Anblick hätte sie fast laut aufschreien lassen. Schnell senkte sie den Blick wieder. Ihr Herz pochte wie wild. Sie spürte ihn in der Tür verweilen und hörte dann, wie er sich mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen näherte. Keuchend ließ er sich auf einem Stuhl neben ihr nieder. Er atmete geräuschvoll.

Der Mullah hieß ihn willkommen und sagte, dass die nun zu feiernde nikka von der traditionellen Form abweichen werde.

»Wenn ich richtig verstanden habe, wird der Bus nach Kabul schon bald abfahren. Weil also die Zeit drängt, empfiehlt es sich, den Ablauf zu verkürzen.«

Der Mullah zitierte ein paar Segenssprüche, sagte einige Worte zur Bedeutung der Ehe und fragte Jalil, ob er Einwände gegen diese Verbindung habe. Jalil schüttelte den Kopf. Daraufhin fragte der Mullah den Bräutigam, ob er wahrhaftig wünsche, die Ehe mit Mariam einzugehen. Raschid sagte: »Ja.« Seine Stimme erinnerte Mariam an das Geräusch trockener Laubblätter, die unter Füßen zertreten werden.

»Und willst du, Mariam jan, diesen Mann als deinen Gatten annehmen?«

Mariam schwieg. Jemand räusperte sich.

»Sie will«, sagte eine Frauenstimme.

»Das muss sie schon selbst sagen«, bemerkte der Mullah. »Und zwar erst nachdem ich dreimal gefragt habe. Schließlich wirbt er um sie und nicht umgekehrt.«

Er stellte die Frage zwei weitere Male. Als Mariam auch dann nicht antwortete, wiederholte er die Frage, nachdrücklicher diesmal. Mariam spürte, wie Jalil auf seinem Stuhl unruhig wurde und mit den Füßen scharrte. Wieder räusperte sich jemand. Eine kleine weiße Hand fuhr über den Tisch und wischte ein Staubkörnchen weg.

»Mariam«, flüsterte Jalil.

»Ja«, sagte sie kleinlaut.

Der Spiegel wurde ihr unter den Schleier gehalten. Mariam sah ihr Gesicht darin, die Augenbrauen, denen es an Schwung mangelte, das spröde Haar, die viel zu eng stehenden, freudlosen Augen, von denen man annehmen mochte, dass sie schielten. Sie fand ihre Stirn zu breit, das Kinn zu schmal, die Lippen zu dünn. Ihr Gesicht war ein in die Länge gezogenes Dreieck, fast wie das eines Hundes. Und doch, trotz all dieser wenig vorteilhaften Merkmale, erkannte Mariam, dass sie nicht unansehnlich war.

Im Spiegel erhaschte Mariam dann auch einen ersten Blick von Raschid: das kantige, grobschlächtige Gesicht, die gebogene Nase, gerötete Wangen, die den Eindruck durchtriebener Heiterkeit vermittelten; wässrige, gerötete Augen; Schneidezähne, die wie ein Dachgiebel gespreizt waren; der unglaublich tiefe Haaransatz, kaum zwei Fingerbreit über den buschigen Augenbrauen; das dichte, krause, graumelierte Haar.

Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke im Spiegel.

Das Gesicht meines Mannes, dachte Mariam.

Sie tauschten die schmalen Goldringe, die Raschid aus seiner Jackentasche gefischt hatte. Seine Fingernägel waren gelblich braun wie das Innere eines faulen Apfels und an den Rändern leicht nach oben gebogen. Mit zitternden Händen versuchte Mariam, den Ring über seinen Finger zu schieben. Er musste ihr dabei helfen. Der für sie bestimmte Ring war ein wenig zu eng, doch hatte Raschid wenig Mühe, ihn über ihre Knöchel zu zwingen.