»Da«, sagte er.
»Ein schöner Ring«, sagte eine der Frauen. »Sehr hübsch, Mariam.«
»Jetzt wäre nur noch der Ehevertrag zu unterzeichnen«, erklärte der Mullah.
Unter aller Augen buchstabierte Mariam ihren Namen — meem, reh, ya, meem. Als sie ein zweites Mal ihren Namen unter ein Dokument setzen sollte, siebenundzwanzig Jahre später, war wieder ein Mullah anwesend.
»Ihr seid nun Mann und Frau«, sagte der Mullah. »Tabreek. Glückwunsch.«
Raschid saß schon in dem bunt bemalten Bus. Mariam stand mit Jalil neben der hinteren Stoßstange und sah von ihrem Mann nur den Zigarettenrauch, der durch das geöffnete Fenster aufstieg. Ringsum wurden Hände geschüttelt und Abschiedsgrüße ausgetauscht, Koran-Bücher geküsst und weitergereicht. Barfüßige Jungen sprangen umher, die Gesichter verdeckt von Holzplatten, auf denen sie den Reisenden Kaugummis und Zigaretten zum Verkauf anboten.
Jalil legte Wert auf die Feststellung, Kabul sei eine so schöne Stadt, dass der Großmogul Babur darum gebeten hatte, dort bestattet zu werden. Mariam wusste schon im Voraus, dass er auch auf die Gärten Kabuls zu sprechen käme, auf die Geschäfte, die vielen Bäume und die frische Luft, und dann, wenn sie im Bus säße, würde er noch winkend ein paar Schritte nebenherlaufen, heiter, unbeschadet und erleichtert.
Dazu wollte es Mariam nicht kommen lassen.
»Ich habe dich verehrt«, sagte sie und unterbrach ihn mitten im Satz.
Jalil verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sie wieder herabfallen. Ein junges Hindi-Paar drängte sich zwischen sie; die Frau trug einen Säugling im Arm, der Mann schleppte einen Koffer. Jalil schien dankbar für die Störung zu sein. Die beiden entschuldigten sich, und er lächelte höflich.
»Donnerstags habe ich stundenlang auf dich gewartet und mir Sorgen gemacht, dass du womöglich nicht kommen könntest.«
»Du hast eine lange Fahrt vor dir und solltest etwas essen.« Er sagte, er könne ihr Brot und Ziegenkäse kaufen.
»Ich habe ständig an dich gedacht. Ich habe gebetet, dass du hundert Jahre leben mögest, und nie für möglich gehalten, dass du dich meinetwegen schämst.«
Jalil senkte den Blick und kratzte wie ein verlegenes Kind mit der Schuhspitze über den Boden.
»Du schämst dich meinetwegen.«
»Ich werde dich besuchen«, stammelte er. »Ich werde nach Kabul kommen, um dich zu sehen. Wir könnten dann…«
»Nein. Nein«, sagte sie. »Komm nicht. Ich will dich nicht sehen. Bleib, wo du bist. Ich will auch nichts mehr von dir hören. Nie mehr.«
Er wirkte verletzt.
»Zwischen uns ist es hier und jetzt vorbei. Sag mir Lebwohl.«
»Du kannst doch so nicht gehen«, sagte er mit dünner Stimme.
»Du hattest nicht einmal den Anstand, mir Zeit zu lassen, mich von Mullah Faizullah zu verabschieden.«
Sie drehte sich um und ging auf die Bustür zu. Sie hörte, dass er ihr folgte. Er war hinter ihr, als sie einstieg.
»Mariam jo.«
Den Blick stur nach vorn gerichtet, folgte sie dem Mittelgang zu den beiden Plätzen, von denen Raschid einen bereits besetzt hatte, ihren Koffer zwischen den Beinen. Sie schaute nicht hin, als Jalil beide Hände an die Glasscheibe presste und klopfend auf sich aufmerksam zu machen versuchte. Auch als der Bus anfuhr, achtete sie nicht darauf, dass er im Laufschritt folgte; und als der Bus Fahrt aufgenommen hatte, schaute sie nicht zurück, um ihn in der Wolke aus Abgas und Staub verschwinden zu sehen.
Raschid, der mit seinem breiten Gesäß auch noch die Hälfte ihres Platzes in Anspruch nahm, legte seine plumpe Hand auf ihre Hände.
»Tja, Mädchen, tja«, sagte er und blickte dabei zum Fenster hinaus, wo er Interessanteres zu vermuten schien.
9
Am frühen Abend des folgenden Tages erreichten sie Raschids Haus.
»Wir sind hier in Deh-Mazang«, sagte er. Er hatte ihren Koffer in der einen Hand und schloss mit der anderen das hölzerne Außentor auf. »Im Südwesten der Stadt. Der Zoo ist ganz in der Nähe, genau wie die Universität.«
Mariam nickte. Das wusste sie bereits. Sie konnte ihn zwar verstehen, musste aber genau hinhören, wenn er sprach, denn sein Farsi hatte einen für sie fremden Kabuli-Akzent mit Nachklängen seiner Muttersprache Paschto. Er hingegen schien keinerlei Probleme mit ihrem Herati-Farsi zu haben.
Mariam warf einen kurzen Blick über die enge, unbefestigte Straße. Die Häuser standen dicht gedrängt, Wand an Wand. Kleine ummauerte Vorhöfe schirmten sie von der Straße ab. Die meisten Häuser hatten Flachdächer und waren aus gebrannten Ziegeln gemauert; manche bestanden aus Lehm und waren so staubgrau wie die Berge, die die Stadt umringten. Auf beiden Seiten der Straße verlief am Rand des Gehwegs eine Abflussrinne voll schlammigen Wassers. Hier und da hatte der Wind Abfallreste zu kleinen Haufen zusammengefegt. Raschids Haus hatte zwei Etagen; es war, wie Mariam sehen konnte, früher einmal blau gewesen.
Als Raschid das Außentor geöffnet hatte, blickte Mariam in einen kleinen ungepflegten Vorhof, wo gelbes Gras in schütteren Büscheln vor sich hin kümmerte. Rechter Hand war in einer Seitennische die Außentoilette untergebracht, links befand sich ein Brunnen mit Handpumpe, davor eine Reihe sterbender Bäumchen. Vor einem Werkzeugschuppen in der Ecke lehnte ein Fahrrad.
»Von deinem Vater weiß ich, dass du Fisch magst«, sagte Raschid, als sie auf das Haus zugingen. Einen Hinterhof gab es nicht, wie Mariam bemerkte. »Im Norden gibt es Täler mit Flüssen, in denen es von Fischen nur so wimmelt. Vielleicht fahren wir eines Tages mal dorthin.«
Er schloss die Haustür auf und ließ sie eintreten.
Raschids Haus war sehr viel kleiner als das von Jalil, aber verglichen mit der kolba geradezu eine Villa. Im Parterre gab es einen Vorraum, ein Wohnzimmer und eine Küche, wo er ihr die Töpfe und Pfannen, einen Schnellkochtopf und einen ishtop zeigte, der mit Petroleum betrieben wurde. Im Wohnzimmer stand eine pistaziengrüne Ledercouch. Ein Riss entlang der Längsseite war ungeschickt vernäht worden. Die Wände waren kahl. Es gab einen Tisch, zwei Korbsessel, zwei Klappstühle und in der Ecke einen schwarzen gusseisernen Ofen.
Mariam stand mitten im Wohnzimmer und schaute sich um. In der kolba hatte sie die Decke mit den Fingerspitzen erreichen können. Auf der Pritsche liegend, hatte sie am Einfallswinkel der Sonnenstrahlen die Zeit abzulesen vermocht. Sie hatte gewusst, wie weit sich die Tür öffnen ließ, bevor sie zu knarren anfing. In den dreißig Dielenbrettern kannte sie jeden Splitter und jeden Riss. Hier hingegen gab es nichts Vertrautes. Nana war tot, und sie, Mariam, war nun hier, in einer fremden Stadt, von Tälern, schneebedeckten Bergen und Wüsten getrennt von dem Leben, das sie kannte. Sie war in dem Haus eines Fremden. Mit verschiedenen Zimmern, dem Geruch kalten Tabaks, mit unbekannten Schränken voll unbekannter Gegenstände, mit schweren, dunkelgrünen Vorhängen und einer Decke, die sie nicht erreichen konnte. Mariam glaubte, ersticken zu müssen. Schmerzhaft sehnte sie sich nach Nana, nach Mullah Faizullah, nach ihrem alten Leben.
Dann fing sie zu weinen an.
»Was soll das?«, fragte Raschid ungehalten. Er griff in die Hosentasche, öffnete Mariams Finger und schob ihr ein Taschentuch in die Hand. Sich selbst steckte er eine Zigarette an, lehnte sich an die Wand und betrachtete Mariam, die das Taschentuch auf die Augen drückte.
»Fertig?«
Mariam nickte.
»Sicher?«
»Ja.«
Daraufhin fasste er sie beim Ellbogen und führte sie ans Fenster des Wohnzimmers.
»Der Blick geht nach Norden«, erklärte er und tippte mit dem krummen Zeigefingernagel auf die Scheibe. »Der Berg vor uns ist der Asmai, siehst du, und links davon der Berg Ali Abad. An seinem Fuß liegt die Universität. Hinter uns, im Osten und von hier aus nicht zu sehen, ist der Berg Shir Darwaza. Von dort wird an jedem Tag zur Mittagszeit ein Kanonenböller abgefeuert. Hör jetzt auf zu weinen. Ich