mein’s ernst.«
Mariam betupfte sich die Augen.
»Das ist etwas, was ich nicht ausstehen kann«, knurrte er. »Heulende Frauen. Tut mir leid, dafür fehlt’s mir an Geduld.«
»Ich will nach Hause«, sagte Mariam.
Raschid schnaubte gereizt. Ein Schwall von Nikotingestank schlug Mariam entgegen. »Ich will’s mal nicht persönlich nehmen. Diesmal nicht.«
Wieder fasste er sie beim Ellbogen und führte sie nach oben.
Von dem engen, düsteren Flur gingen zwei Schlafzimmer ab. Die Tür zum größeren Zimmer stand offen. Mariam blickte in einen Raum, der wie alle anderen Räume spärlich möbliert war: mit einem Bett, auf dem eine braune Decke und ein Kissen lagen, einem Kleiderschrank und einer Kommode. Von einem kleinen Spiegel abgesehen, waren die Wände kahl. Raschid zog die Tür zu.
»Das ist mein Zimmer.«
Er sagte, sie werde im Gästezimmer schlafen. »Du hast hoffentlich nichts dagegen. Ich bin daran gewöhnt, allein zu schlafen.«
Mariam verzichtete darauf, ihm zu sagen, wie erleichtert sie zumindest in dieser Hinsicht war.
Der für sie bestimmte Raum war sehr viel kleiner als das Zimmer, in dem sie bei Jalil gewohnt hatte. Es war mit einem Bett, einer alten graubraunen Kommode und einem kleinen Schrank eingerichtet. Durch das Fenster sah man in den Vorhof und die Straße dahinter. Raschid stellte ihren Koffer
in einer Ecke ab.
Mariam setzte sich aufs Bett.
»Ist dir nichts aufgefallen?«, fragte er. Er stand in der Tür, den Kopf eingezogen, um unter den Sturz zu passen. »Da, auf dem Fensterbrett. Weißt du, was das für welche sind? Ich hab sie dahin gestellt, bevor ich nach Herat aufgebrochen bin.«
Erst jetzt sah Mariam einen kleinen Korb auf dem Fensterbrett. Über den Rand hingen weiße Nachthyazinthen.
»Magst du sie? Gefallen sie dir?«
»Ja.«
»Dann kannst du dich ruhig dafür bedanken.«
»Danke. Es tut mir leid. Tashakor…«
»Du zitterst ja. Vielleicht habe ich dir Angst gemacht. Hab ich dir Angst gemacht? Fürchtest du dich vor mir?«
Mariam sah ihn nicht an, hörte aber aus seinen Fragen heraus, wie sich Stichelei und Häme anfühlte. Sie schüttelte den Kopf und war sich darüber im Klaren, dass sie damit zum ersten Mal in ihrer Ehe gelogen hatte.
»Nein? Dann ist es gut. Gut für dich. Das ist jetzt dein Zuhause. Es wird dir gefallen. Du wirst sehen. Habe ich dir gesagt, dass wir elektrisches Licht haben? An den meisten Tagen und jede Nacht.«
Er machte Anstalten zu gehen, blieb aber noch mal stehen, zog an seiner Zigarette und blinzelte durch den Rauch, der ihm in die Augen stieg. Mariam glaubte, dass er noch etwas sagen wollte, es aber dann doch nicht tat. Er zog die Tür hinter sich zu und ließ sie mit ihrem Koffer und den Blumen allein.
10
In den ersten Tagen blieb Mariam meist auf ihrem Zimmer. Morgens wurde sie von dem aus der Ferne tönenden athan geweckt, dem Aufruf zum Gebet. Danach ging sie wieder ins Bett. Sie hörte Raschid im Haus hantieren und schließlich die Treppe heraufkommen, um nach ihr zu sehen, bevor er sich auf den Weg in sein Geschäft machte. Vom Fenster aus sah sie, wie er im Hof die Brotbüchse auf dem Gepäckträger seines Fahrrads befestigte, es dann auf die Straße schob und in die Pedale trat. In einer Kurve am Ende der Straße sah sie seine stämmige Gestalt verschwinden.
Fast den ganzen Tag blieb Mariam im Bett liegen; sie fühlte sich einsam und verloren. Einmal ging sie hinunter in die Küche und fuhr mit der Hand über die klebrige, fettfleckige Anrichte und die geblümten Kunststoffvorhänge, die nach Verbranntem rochen. In den schwergängigen Schubladen fand sie ein Sammelsurium an abgenutzten Löffeln, Messern und Pfannenwendern, Gebrauchsgegenständen ihres neuen Alltags, die ihr die Trostlosigkeit ihres Schicksals vor Augen führten und ihr das Gefühl gaben, entwurzelt, vertrieben und fehl am Platz zu sein.
In der kolba war darauf Verlass gewesen, dass sich irgendwann der Hunger meldete. Hier ging ihr jeder Appetit verloren. Manchmal nahm sie einen Teller mit übrig gebliebenem weißem Reis und einem Stück Brot und setzte sich damit ans Fenster des Wohnzimmers. Von dort hatte sie einen Blick auf die eingeschossigen Häuser der Straße mit ihren Höfen, wo Frauen Wäsche zum Trocknen aufhängten und Kinder spielten, Hühner im Staub pickten, Schaufeln und Spaten herumlagen und Kühe, an Bäume gebunden, wiederkäuten.
Sehnsüchtig erinnerte sie sich an die Sommernächte, in denen sie mit Nana auf dem Flachdach der kolba geschlafen hatte, wenn der Mond über Gul Daman glühte und die Luft so heiß war, dass die Kleider an der Brust klebten wie nasses Laub an einer Fensterscheibe. Sie dachte an die mit Mullah Faizullah verbrachten Nachmittage im Winter, an das Klirren der Eiszapfen, wenn sie von den Bäumen aufs Dach fielen, an das Krächzen der Krähen auf verschneiten Zweigen.
Von Unruhe getrieben, irrte sie durchs Haus, von der Küche ins Wohnzimmer, über die Treppe nach oben und wieder hinunter. Am Ende war sie wieder in ihrem Zimmer, verrichtete ihre Gebete oder hockte auf dem Bett, niedergeschlagen und krank vor Heimweh.
Je weiter die Sonne in den Westen vorrückte, desto unruhiger wurde sie. Sie schüttelte sich vor Grauen, wenn sie daran dachte, dass Raschid irgendwann beschließen würde, mit ihr die Ehe zu vollziehen. Während er unten allein am Tisch saß, lag sie auf ihrem Bett und zitterte vor Angst.
Er machte immer vor ihrem Zimmer Halt und steckte den Kopf zur Tür herein.
»Du wirst doch nicht schon schlafen. Es ist erst sieben. Bist du wach? Antworte. Los jetzt.«
Er gab erst Ruhe, wenn sich Mariam aus ihrem dunklen Winkel meldete.
Dann ließ er sich auf dem Boden nieder und blieb eine Weile in der Tür sitzen. Vom Bett aus sah Mariam seinen breiten Rumpf, die langen Beine und unscharf das hakennasige Profil hinter aufsteigenden Rauchschlieren, während der Leuchtpunkt der Zigarettenglut immer wieder für einen Moment heller wurde.
Er berichtete ihr von seinem Tag. Für den stellvertretenden Außenminister, der, wie Raschid sagte, alle seine Schuhe von ihm bezog, hatte er ein paar Slipper maßangefertigt. Ein polnischer Diplomat und seine Frau hatten Sandalen in Auftrag gegeben. Er erzählte ihr von den abergläubischen Vorstellungen, die manche Leute mit Schuhen in Verbindung brachten: Schuhe im Bett anzuziehen würde einen Todesfall in der Familie heraufbeschwören, und dem, der zuerst in den linken Schuh schlüpfe, drohe Streit.
»Es sei denn, so etwas passiert unbeabsichtigt an einem Freitag«, fügte er hinzu. »Und wusstest du, dass es angeblich ein schlechtes Zeichen ist, wenn man Schuhe zusammenbindet und sie an einen Nagel hängt?«
Raschid selbst glaubte nichts von alledem. Aberglaube war seiner Meinung nach typisch für Frauen.
Auf der Straße hatte er gehört, dass der amerikanische Präsident Richard Nixon wegen eines Skandals von seinem Amt zurückgetreten sei.
Mariam wusste nichts von einem Präsidenten namens Nixon, geschweige denn von dem Skandal, der ihn zum Rücktritt gezwungen hatte, verzichtete aber auf jeden Kommentar. Nervös wartete sie darauf, dass Raschid endlich zu reden aufhörte, seine Zigarette ausdrückte und sie in Ruhe ließ. Erst wenn sie ihn gehen und seine Zimmertür öffnen und schließen hörte, löste sich die Anspannung in ihr.
Dann, eines Abends, blieb er, nachdem er die Zigarette ausgedrückt hatte, im Türrahmen stehen, deutete mit einer Kopfbewegung auf ihren Koffer und sagte: »Wirst du das Ding jemals auspacken?« Er verschränkte die Arme über der Brust. »Ich war darauf eingestellt, dass du ein wenig Zeit brauchst. Aber das ist absurd. Du bist jetzt eine Woche hier und… Kurz und gut, ich erwarte, dass du dich ab morgen wie eine Ehefrau aufführst. Fahmidi? Haben wir uns verstanden?«