Raschid kam am Abend mit einer braunen Papiertüte nach Hause. Er bemerkte nicht, dass die Fenster geputzt, die Böden gefegt und die Spinnweben entfernt waren, zeigte sich aber erfreut darüber, dass sie auf dem Wohnzimmerboden eine saubere sofrah ausgebreitet und mit seinem Essgeschirr
eingedeckt hatte.
»Ich habe daal gekocht«, sagte Mariam.
»Gut. Ich habe Hunger bis unter beide Arme.«
Mit dem Wasser aus der aftawa wusch sie ihm die Hände, und während er sie mit einem Tuch trocknete, servierte Mariam ihm eine Schale mit dampfendem daal und flockigem weißem Reis auf einem Teller. Es war die erste Mahlzeit, die sie für ihn gekocht hatte, und Mariam fürchtete, dass sie ihr womöglich nicht gut genug gelungen war. Bei der Zubereitung hatte ihr immer noch der Schock über den Zwischenfall vor dem tandoor in den Gliedern gesteckt, und den ganzen Tag über war sie in Sorge darüber gewesen, ob die Linsen denn auch die richtige Konsistenz und Farbe hatten, ob womöglich zu viel Ingwer und zu wenig Kurkuma beigegeben waren.
Er tauchte seinen Löffel in das goldgelbe daal.
Mariam hielt die Luft an. Was, wenn er enttäuscht oder verärgert wäre? Was, wenn er seinen Teller angewidert von sich schöbe?
»Vorsichtig«, gelang es ihr zu sagen. »Es ist heiß.«
Raschid spitzte die Lippen, pustete auf den Happen und steckte ihn in den Mund.
»Gut«, sagte er. »Ein bisschen wenig Salz, aber gut. Vielleicht sogar besser als gut.«
Erleichtert schaute Mariam ihm beim Essen zu. Vielleicht sogar besser als gut. Sie ließ sich seine Worte auf der Zunge zergehen und war selbst überrascht, wie sehr sie dieses kleine Kompliment mit Stolz erfüllte. Es versöhnte sie ein wenig mit den Schrecken des Vormittags.
»Morgen ist Freitag«, sagte Raschid. »Was hältst du davon, wenn ich dir morgen die Stadt zeige?«
»Kabul?«
»Nein. Kalkutta.«
Mariam sah ihn sprachlos an.
»Sollte ein Witz sein. Natürlich Kabul. Was sonst?« Er langte in die braune Papiertüte. »Aber zuerst muss ich dir was sagen.«
Er zog eine himmelblaue Burka aus der Tüte. Der plissierte Stoff fiel ihm über die Knie. Er hob ihn in die Höhe und schaute Mariam an.
»Ich habe Kunden, Mariam, Männer, die mit ihren Frauen in den Laden kommen. Diese Frauen sind unverhüllt; sie schauen mir direkt ins Gesicht, ohne jede Scham. Sie sind geschminkt und tragen Röcke, die gerade bis zum Knie reichen. Manche halten mir sogar ihre bloßen Füße hin, damit ich Maß nehme, und ihre Männer stehen daneben und sehen zu. Sie erlauben und denken sich anscheinend nichts dabei, wenn ein Fremder die nackten Füße ihrer Frauen berührt. Sie halten sich für moderne Männer, für Intellektuelle. Bilden sich womöglich was auf ihre Schulausbildung ein. Dass sie damit ihren nang und namoos, ihre Ehre und ihren Stolz, gefährden, scheint ihnen gar nicht bewusst zu sein.«
Er schüttelte den Kopf.
»Die meisten von ihnen kommen aus den reicheren Vierteln von Kabul. Da führ ich dich hin. Du wirst sehen. Es gibt allerdings auch hier, Mariam, hier in unserem Viertel, solche weichen Männer. Da wäre zum Beispiel dieser Lehrer. Er heißt Hakim und wohnt ein paar Häuser weiter unten an der Straße. Seine Frau Fariba sieht man ständig nur mit einem Schal bedeckt in den Straßen herumlaufen. Ich finde es regelrecht beschämend, wenn ein Mann die Kontrolle über seine Frau verloren hat.«
Er bedachte Mariam mit einem festen Blick.
»Ich bin ein Mann von anderem Schlag, Mariam. Ich komme aus einer Gegend, in der jeder falsche Blick, ein einziges falsches Wort mit Blut vergolten wird. Wo ich herkomme, ist das Gesicht einer Frau einzig und allein Sache ihres Ehemannes. Ich möchte, dass du immer daran denkst. Verstehen wir uns?«
Mariam nickte und nahm die Burka von ihm entgegen.
Die Freude darüber, dass ihm ihr Essen schmeckte, war verschwunden. Stattdessen fühlte sie sich klein gemacht. Der Wille dieses Mannes kam ihr übermächtig und unverrückbar vor wie die Safid-koh-Berge über Gul Daman.
»Das also wäre klar zwischen uns«, sagte Raschid. »Und jetzt hätte ich gern mehr von diesen Linsen.«
11
Mariam hatte nie zuvor eine Burka getragen. Beim Anziehen musste sie sich von Raschid helfen lassen. Die in das Kopfteil eingenähte Kappe legte sich eng um ihre Stirn, und es mutete sie seltsam an, die Welt durch ein Gitternetz zu betrachten. Um sich daran zu gewöhnen, trug sie die Burka im Haus, trat aber ständig auf den Saum und geriet ins Stolpern. Der eingeschränkte Blickwinkel verunsicherte sie zusätzlich, und das über den Mund fallende Tuch hinderte sie daran, frei zu atmen.
»Na bitte«, sagt Raschid. »Ich wette, mit der Zeit magst du gar nichts anderes mehr tragen.«
Mit einem Bus fuhren sie zu einer Parkanlage, dem Shar-e-Nau, wie Raschid sagte. Kinder stießen sich gegenseitig auf Schaukeln an oder schlugen Volleybälle über zerrissene Netze, die zwischen Bäume gespannt waren. Seite an Seite schlenderten Raschid und Mariam umher und sahen zu, wie Jungen Drachen steigen ließen. Immer wieder stolperte sie über den Saum der Burka. Um die Mittagszeit führte Raschid sie in ein kleines Kebab-Haus nahe einer Moschee, die, wie sie von ihm erfuhr, nach Hadschi Jakob benannt worden war. Der Boden war klebrig, die Luft voller Rauch. Es roch nach rohem Fleisch, und die Musik — Raschid bezeichnete sie als logari — dröhnte ihr in den Ohren. Die Köche, dünne Burschen, schürten mit der einen Hand das Feuer unter den Spießen und versuchten mit der anderen, die Fliegen zu vertreiben. Mariam war zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Restaurant und fand es anfangs seltsam, unter so vielen Fremden zu sitzen und die Burka zu lüften, um sich einen Happen in den Mund zu stecken. Sie verspürte einen Anflug derselben Angst, die sie vor dem öffentlichen tandoor ausgestanden hatte, sah sich aber ein wenig beruhigt durch Raschids Anwesenheit, und nach einer Weile waren ihr die Musik, der Rauch, ja selbst die vielen Menschen erträglich. Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie nun die Burka durchaus angenehm zu tragen. Das Gitternetz war wie ein Fenster, durch das sie selbst alles beobachten konnte, ohne den neugierigen Blicken anderer ausgesetzt zu sein. Sie brauchte sich keine Sorgen mehr darum zu machen, dass man sie wiedererkennen und die schändlichen Geheimnisse ihrer Vergangenheit durchschauen könnte.
Unterwegs machte Raschid sie auf wichtige Gebäude aufmerksam, auf die amerikanische Botschaft und das Außenministerium. Er deutete auf Autos und nannte die Namen ihrer Hersteller: sowjetische Wolgas, amerikanische Chevrolets, deutsche Opel.
»Welches gefällt dir am besten?«, fragte er.
Nach kurzem Zögern zeigte Mariam auf einen Wolga. Raschid lachte.
Kabul war sehr viel dichter bevölkert als das, was Mariam von Herat gesehen hatte. Bäume und von Pferden gezogene garis sah man hier nur vereinzelt; dafür gab es jede Menge Autos, höhere Gebäude, zahllose Verkehrsampeln und asphaltierte Straßen. Die Stadtbewohner sprachen in einem eigentümlichen Dialekt. Jo, was so viel wie »lieb« bedeutete, hieß hier jan; aus hamshireh — Schwester — wurde hamshira.
Raschid kaufte einem Straßenhändler zwei Becher Eiscreme ab. Für Mariam war es das erste Mal, dass sie Eis aß, und dass es so lecker schmeckte, hätte sie kaum für möglich gehalten. Obenauf lagen klein gehackte Pistazien, der Boden bestand aus Puffreis. Genüsslich löffelte sie ihren Becher leer und staunte über den süßen Schmelz auf der Zunge.