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Raschid hielt sich nur einige wenige Tage an die Fastenvorschriften, und wenn er es tat, wurde er übellaunig. Hunger machte ihn schroff, gereizt und ungeduldig. Als Mariam eines Abends etwas länger für die Zubereitung der Mahlzeit brauchte, fing er an, Brot und Rettich zu essen, und als sie ihm dann Reis, Lammfleisch und ein Okra-qurma vorsetzte, rührte er es nicht an. Ohne ein Wort zu sagen und mit vor Wut angeschwollenen Adern an den Schläfen kaute er sein Brot und starrte vor sich hin. Als Mariam ihn ansprach, schaute er durch sie hindurch und steckte ein weiteres Stück Brot in den Mund.

Mariam war froh, als der Fastenmonat endete.

Damals in der kolba war Jalil immer am ersten der drei Tage des Zuckerfestes Eid-ul-Fitr nach Ramadan zu Besuch gekommen. Herausgeputzt in Anzug und Krawatte, brachte er Eid-Geschenke mit. Einmal war es ein Wollschal für Mariam. Zu dritt tranken sie Tee, und wenig später machte sich Jalil wieder auf den Weg.

»Um mit seiner richtigen Familie Eid zu feiern«, sagte Nana, als er den Fluss überquerte und noch einmal winkte.

Auch Mullah Faizullah kam immer an diesem besonderen Tag. Er brachte Mariam in Folie eingepackte Schokoladenstücke, einen kleinen Korb mit gefärbten, hart gekochten Eiern und Kekse in einer Blechbüchse. Wenn er gegangen war, kletterte Mariam mit ihren Geschenken in eine der Weiden. Auf einem Ast hoch oben lutschte sie dann Mullah Faizullahs Schokolade und ließ die Papierhüllen fallen, die sich wie silberne Blütenblätter um den Fuß des Baumes legten. Kaum war die Schokolade verzehrt, machte sie sich über die Kekse her, und danach malte sie mit einem Bleistift Gesichter auf die Eier, die er ihr mitgebracht hatte. Von solchen kleinen Vergnügungen abgesehen, hatte Mariam wenig Freude am Zuckerfest. Eid, die Zeit, in der sich feierlich ausstaffierte Familien untereinander besuchten, war ihr ein Graus. Sie stellte sich immer vor, dass die Luft über Herat vor Heiterkeit knisterte und hochgestimmte, lachende Menschen einander mit Freundlichkeiten und Glückwünschen überhäuften. Dann senkte sich Trübsal auf sie herab wie ein dunkler Schleier, der sich erst wieder lüftete, wenn Eid vorbei war.

In diesem Jahr sah Mariam das Zuckerfest ihrer Kindheitsvorstellungen zum ersten Mal mit eigenen Augen.

Raschid und sie gingen aus. Die Straßen waren voller Menschen, die, ungeachtet des kalten Wetters, von einem Verwandtschaftsbesuch zum nächsten eilten. Nie zuvor hatte sich Mariam inmitten einer so lebhaften Menge bewegt. In der eigenen Straße erkannte sie Fariba und ihren Sohn Noor wieder, der einen Anzug trug. Fariba, die einen weißen Schal angelegt hatte, ging an der Seite eines kleinen, schüchtern wirkenden Mannes mit Brille. Auch der ältere Sohn war dabei — Mariam erinnerte sich, dass Fariba ihr bei ihrem ersten Treffen vor dem tandoor seinen Namen, Ahmad, genannt hatte. Im Unterschied zu seinem jüngeren Bruder machte er mit seinen tief liegenden, nachdenklichen Augen einen ernsten, fast schon erwachsenen Eindruck. Um seinen Hals hing eine Kette mit glitzerndem Allah-Anhänger.

Fariba hatte Mariam offenbar auch erkannt, trotz der Burka. Sie winkte ihr zu und rief: »Eid mubarak!«

Unter ihrer Burka deutete Mariam ein Kopfnicken an.

»Du kennst also diese Frau, die Frau des Lehrers«, sagte Raschid.

Mariam verneinte.

»Du gehst ihr besser aus dem Weg. Sie ist eine neugierige und geschwätzige Person. Und ihr Mann hält sich für was Besonderes, weil er studiert hat. Tatsächlich aber ist er eine Maus. Schau ihn dir an. Sieht er nicht aus wie eine Maus?«

Sie gingen nach Shar-e-Nau, wo Kinder in frischen Hemden und bunten, perlenbesetzten Westen umhertollten und ihre Eid-Geschenke untereinander verglichen. Frauen schwenkten Teller voller Süßigkeiten. In den Fenstern der Geschäfte hingen schmuckvolle Laternen; aus Lautsprechern dröhnte Musik. Fremde wünschten Mariam und Raschid im Vorübergehen »Eid mubarak«.

Am Abend gingen sie nach Chaman, wo sie ein prächtiges Feuerwerk bestaunten. Mariam stand hinter Raschid und dachte an die Zeit zurück, als sie mit Mullah Faizullah vor der kolba gestanden hatte und in der Ferne die bunten Raketen über Herat zerplatzen und Farben versprühen sah, die sich in den sanften eingetrübten Augen ihres Lehrers widerspiegelten. Doch am meisten fehlte ihr Nana. Mariam wünschte, ihre Mutter würde all dies miterleben und sie, ihre Tochter, inmitten dieser Feierlichkeiten entdecken können — damit sie endlich einsähe, dass Zufriedenheit und Schönheit sehr wohl zu finden waren, selbst für Leute wie sie.

Sie empfingen auch Eid-Besucher bei sich zu Hause. Ausnahmslos Männer, Freunde von Raschid. Wenn jemand anklopfte, musste sich Mariam auf ihr Zimmer zurückziehen. Dort blieb sie, solange die Männer mit Raschid Tee tranken, rauchten und plauderten. Raschid hatte ihr eingeschärft, dass sie erst dann wieder nach unten kommen dürfe, wenn die Besucher gegangen seien.

Mariam hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, sie fühlte sich geschmeichelt. Für Raschid war das, was sie miteinander gemein hatten, heilig. Er hielt ihre Ehre, ihren namoos, für schützenswert und vermittelte ihr damit das Gefühl, etwas Kostbares, Bedeutendes zu sein.

Am dritten und letzten Tag des Zuckerfestes verließ Raschid das Haus, um seinerseits Freunde zu besuchen. Mariam, die seit der Nacht unter Magenschmerzen litt, setzte Wasser auf und machte sich eine Tasse grünen Tee mit zerdrücktem Kardamom. Danach räumte sie im Wohnzimmer die Hinterlassenschaften der Eid-Besucher vom Vorabend auf: umgekippte Tassen, Spelzen von Kürbiskernen, die zwischen die Polster gerutscht waren, Teller mit den verkrusteten Resten der letzten Mahlzeit. Mariam machte sich an die Arbeit und staunte darüber, wie emsig bequeme Männer sein konnten, wenn es darum ging, Unordnung zu schaffen.

Es war nicht ihre Absicht, in Raschids Zimmer zu gehen, doch die Hausarbeit führte sie vom Wohnzimmer zur Treppe, nach oben und an seine Tür. Unversehens war sie plötzlich in seinem Zimmer, zum ersten Mal. Sie kam sich wie ein Eindringling vor.

Auf der Bettkante sitzend, betrachtete sie die schweren grünen Vorhänge, die sorgfältig vor der Wand geordneten polierten Schuhe, den Kleiderschrank, von dem an einer Stelle an der Tür die graue Farbe abgeblättert war. Auf der Kommode neben dem Bett lag eine Packung Zigaretten. Sie steckte sich eine zwischen die Lippen, stand auf und musterte sich in dem kleinen ovalen Spiegel an der Wand. Sie paffte in die Luft und tat, als streifte sie Asche ab. Schließlich steckte sie die Zigarette in die Packung zurück. Es würde ihr wohl nie gelingen, so elegant zu rauchen wie die Frauen von Kabul. Bei ihr sah es ungelenk und lächerlich aus.

Es war ihr bewusst, etwas Verbotenes zu tun, als sie die obere Schublade der Kommode aufzog.

Als Erstes sah sie die Pistole. Sie war schwarz, hatte einen Griff aus Holz und einen kurzen Lauf. Mariam merkte sich genau, wie die Waffe in der Lade lag, ehe sie danach langte. Sie war schwerer als gedacht. Der Griff fühlte sich glatt in der Hand an, der Lauf war kalt. Es beunruhigte sie, dass Raschid etwas besaß, dessen einziger Zweck darin bestand, einen anderen Menschen zu töten. Aber wahrscheinlich dachte er nur an seine und ihre Sicherheit.