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Unter der Pistole lagen mehrere Illustrierte mit abgegriffenen Blättern. Mariam schlug eine davon auf. Sie erstarrte.

Auf jeder Seite waren Frauen abgebildet, wunderschöne Frauen, die weder Hemd noch Hose, Socken oder Unterwäsche trugen. Sie hatten überhaupt nichts an, lagen zwischen zerwühlten Laken und schauten Mariam aus halb geschlossenen Augen an. Auf den meisten Bildern hielten sie die Beine gespreizt und zeigten die dunkle Stelle dazwischen. Manche Frauen knieten am Boden wie — Gott möge ihr den Gedanken verzeihen — in sujda zum Gebet. Sie warfen einen Blick über die Schulter, der gelangweilte Verachtung verriet.

Schnell legte Mariam das Heft zurück. Sie fühlte sich wie benommen. Wer waren diese Frauen? Wie hatten sie es zulassen können, solchermaßen fotografiert zu werden? Vor lauter Ekel rebellierte ihr Magen. Schaute sich Raschid diese Bilder an, wenn er nachts zu Bett ging? Fand er sie selbst in dieser Hinsicht so enttäuschend? Und was sollte all dieses Gerede von Ehre und Anstand? Wieso rümpfte er die Nase über weibliche Kunden, die doch nur ihre Füße entblößten, um passende Schuhe zu finden? »Das Gesicht einer Frau«, so hatte er gesagt, »ist einzig und allein Sache ihres Ehemannes.« Die Frauen auf diesen Seiten hatten doch gewiss auch Ehemänner, zumindest einige von ihnen. Oder Brüder. Wieso bestand Raschid darauf, dass sie, Mariam, sich verhüllte, wenn er doch offenbar kein Problem damit hatte, die intimsten Stellen von Frauen und Schwestern anderer Männer zu betrachten?

Verwirrt und peinlich berührt setzte sich Mariam wieder auf sein Bett. Sie legte den Kopf in die Hände, machte die Augen zu und atmete langsam ein und aus, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte.

Allmählich fand sie zu einer Erklärung. Immerhin war er ein Mann, der jahrelang allein gelebt hatte. Er hatte andere Bedürfnisse als sie. Für sie waren seine nächtlichen Besuche in ihrem Bett nach wie vor eine Übung in stiller Duldsamkeit. Er dagegen empfand einen Heißhunger, der sich manchmal auf geradezu brutale Weise äußerte, wenn er sie gepackt hielt, ihre Brüste knetete und wie wild mit den Hüften zustieß. Er war ein Mann, der jahrelang auf eine Frau hatte verzichten müssen. Konnte sie ihm vorwerfen, so zu sein, wie er von Gott erschaffen worden war?

Mariam wusste, dass sie darüber nie mit ihm würde reden können. Ausgeschlossen. Aber war es wirklich unverzeihlich?

Sie brauchte sich bloß den anderen Mann in ihrem Leben vor Augen zu führen. Jalil hatte außereheliche Beziehungen zu Nana unterhalten, obwohl er Ehemann dreier Frauen und Vater von neun Kindern war. Was war schlimmer, Raschids Hefte oder Jalils Ehebruch? Und was überhaupt berechtigte sie, ein harami und Mädchen vom Lande, ein Urteil zu fällen?

Mariam zog die untere Schublade der Kommode auf.

Darin fand sie das Schwarzweißfoto eines vier-oder fünfjährigen Jungen mit gestreiftem Hemd und Fliege. Es war ein hübscher Junge; er hatte eine schmale Nase, braunes Haar und dunkle, tiefe Augen. Er wirkte abgelenkt und schien in dem Moment, da die Kamera ausgelöst wurde, auf etwas anderes aufmerksam gemacht worden zu sein.

Darunter lag ein weiteres Foto, ebenfalls schwarzweiß, aber sehr viel körniger. Es zeigte eine sitzende Frau; hinter ihr stand, schlank und jung, Raschid mit schwarzem Haar. Die Frau war wunderschön, zweifelsfrei schöner als sie, Mariam. Sie hatte ein zartes Kinn und langes, in der Mitte gescheiteltes schwarzes Haar, hohe Wangenknochen und eine sanft geschwungene Stirn. Mariam dachte an ihr eigenes Aussehen, an die dünnen Lippen und das lange Kinn, und verspürte einen Anflug von Neid.

Lange betrachtete sie das Foto. Es wirkte irgendwie beunruhigend, wie Raschid hinter der Frau aufragte und ihre Schultern mit beiden Händen gefasst hielt, er mit genüsslichem, schmallippigem Lächeln und sie mit ernster Miene, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, als versuchte sie, sich von ihm zu befreien.

Mariam legte alles dahin zurück, wo sie es gefunden hatte.

Als sie später die Wäsche machte, bereute sie, in seinem Zimmer herumgeschnüffelt zu haben. Wozu? Was hatte sie Neues über ihn in Erfahrung gebracht? Dass er eine Pistole besaß, dass er ein Mann mit den Bedürfnissen eines Mannes war? Außerdem hätte sie das Foto von ihm und seiner Frau nicht so lange anschauen sollen, geschweige denn einer Körperhaltung, zufällig festgehalten in einem kurzen Moment, über Gebühr Bedeutung beimessen dürfen.

Während die voll behängte Wäscheleine vor ihr auf und ab wippte, empfand sie jetzt Mitleid für Raschid. Auch er hatte es nicht leicht gehabt in seinem Leben, das von Verlust und traurigen Schicksalswendungen geprägt war. Ihre Gedanken kehrten zu dem Jungen zurück, Yunus, der in diesem Hof Schneemänner gebaut hatte, dessen Füße über dieselben Stufen gestiegen waren. Der See hatte ihn seinem Vater entrissen, verschluckt wie der Wal den Propheten gleichen Namens. Es schmerzte Mariam, es schmerzte sie sehr, sich vorzustellen, wie Raschid in seiner Hilflosigkeit und Panik am Ufer des Sees herumgeirrt sein mochte, flehentlich darum bittend, dass ihm sein Sohn zurückgegeben werde. Und zum ersten Male empfand sie eine wirkliche Verwandtschaft mit ihrem Mann. Vielleicht, so dachte sie, würde am Ende doch noch ein gutes Paar aus ihnen werden.

13 

Als Mariam nach dem Arztbesuch mit dem Bus nach Hause fuhr, wusste sie selbst nicht, wie ihr geschah. Alles, worauf ihr Blick fiel, leuchtete in hellen Farben, sogar die grauen Betonhochhäuser, die Blechdächer, die zur Straße hin offenen Läden und das trübe Wasser in den Abflusskanälen. Es war, als hätte sich ein Regenbogen über ihre Augen gespannt.

Raschid, der neben ihr saß, trommelte mit behandschuhten Fingern auf den Schenkeln und summte eine Melodie. Sooft der Bus durch ein Schlagloch fuhr, schnellte seine Hand vor und legte sich schützend auf ihren Bauch.

»Was hältst du von Zalmai?«, fragte er. »Ein schöner Paschtunenname.«

»Und wenn’s ein Mädchen ist?«, entgegnete Mariam.

»Ich glaube, es ist ein Junge. Ja. Ein Junge.«

Plötzlich ging ein Raunen durch den Bus. Mehrere Fahrgäste deuteten nach draußen; alle reckten die Hälse, um zu sehen, was da vor sich ging.

»Schau mal«, sagte Raschid und tippte an die Scheibe. Er lächelte. »Siehst du?«

Auf der Straße waren die Passanten stehen geblieben. Hinter den Fenstern der Autos, die vor der Verkehrsampel warteten, tauchten Gesichter auf, die nach oben blickten, einem Gewimmel tanzender Schneeflocken entgegen. Woran, so fragte sich Mariam, mochte es wohl liegen, dass der erste Schneefall des Jahres alle zu verzaubern schien? Lag es an der seltenen Möglichkeit, zu sehen, was noch vollkommen rein und unbelastet war? An dem Ausblick auf eine neue Jahreszeit, einen Neubeginn voller Hoffnungen, die noch nicht enttäuscht waren?

»Wenn’s ein Mädchen ist…«, sagte Raschid, »also angenommen, es wäre ein Mädchen, was es aber nicht ist, kannst du ganz allein entscheiden, wie sie heißen soll.«

Am nächsten Morgen wurde Mariam von Sägegeräuschen und Hammerschlägen geweckt. Sie umwickelte sich mit einem Schal und ging hinunter in den verschneiten Vorhof. Das Schneetreiben der vergangenen Nacht hatte sich gelegt. Kohlegeruch hing in der Luft. Über der Stadt lag eine gespenstische Stille; sie glich einer riesigen weißen Steppdecke, aus der hier und da Rauchsäulen emporstiegen.

Raschid war im Werkzeugschuppen und hämmerte Nägel in ein Holzbrett. Als er sie sah, zog er einen Nagel aus dem Mundwinkel und sagte: »Eigentlich wollte ich dich damit überraschen. Er wird eine Wiege brauchen. Die solltest du aber erst sehen, wenn sie fertig ist.«

Mariam hätte sich gewünscht, dass er nicht all seine Hoffnungen auf einen Jungen setzte, und sosehr sie sich auch über ihre Schwangerschaft freute, belasteten sie seine Erwartungen. Tags zuvor war Raschid ausgegangen und mit einem Wildledermantel für einen Jungen nach Hause zurückgekehrt, gefüttert mit weichem Lammfell und roten und gelben Seidenstickereien auf den Ärmeln.