Auch Jalil habe kein dil, sagte Nana, nicht den Mut, zu tun, was die Ehre verlangte, seiner Familie, seinen Frauen und Schwägern gegenüber aufzustehen und Verantwortung zu übernehmen. Stattdessen war hinter verschlossenen Türen und in aller Schnelle ein Abkommen getroffen worden, das sein Gesicht wahren sollte. Am nächsten Tag hatte er sie aufgefordert, ihre Sachen aus der Dienstbotenwohnung zu holen, und weggeschickt.
»Weißt du, was er seinen Frauen zu seiner Entschuldigung gesagt hat? Dass ich mich ihm aufgedrängt hätte. Dass es meine Schuld gewesen wäre. Didi? Verstehst du? Verstehst du, was es bedeutet, in dieser Welt eine Frau zu sein?«
Nana setzte die Schale mit dem Hühnerfutter ab. Sie streckte die Hand aus und hob Mariams Kinn in die Höhe.
»Schau mich an, Mariam.«
Mariam gehorchte widerstrebend.
»Lass dir das eine Lehre sein, meine Tochter«, sagte Nana. »So wie eine Kompassnadel immer nach Norden zeigt, wird der anklagende Finger eines Mannes immer eine Frau finden. Immer. Denk daran, Mariam.«
2
»Für Jalil und seine Frauen war ich nichts weiter als eine Quecke. Gemeiner Beifuß. Das Gleiche gilt für dich. Schon als du noch gar nicht geboren warst.«
»Was ist gemeiner Beifuß?«, fragte Mariam.
»Ein Unkraut«, antwortete Nana. »Etwas, das man ausreißt und wegwirft.«
Innerlich runzelte Mariam die Stirn. Sie fühlte sich von Jalil nie wie Unkraut behandelt, hielt es aber für klüger, ihren Einspruch für sich zu behalten.
»Im Unterschied zu Unkraut musste ich allerdings umgepflanzt und versorgt werden. Deinetwegen, verstehst du? Das war die Abmachung zwischen Jalil und seiner Familie.«
Nana sagte, sie habe sich geweigert, in Herat wohnen zu bleiben.
»Wozu auch? Um ihn mit seinen kinchini-Frauen den ganzen Tag durch die Stadt kutschieren zu sehen?«
Genauso wenig hatte sie im leer stehenden Haus ihres Vaters wohnen wollen, in dem kleinen Kaff Gul Daman, das auf einem steilen Hügel zwei Kilometer nördlich vor Herat lag. Sie sagte, sie habe irgendwo abseits leben wollen, an einem entlegenen Ort, wo ihr die Nachbarn nicht auf den Bauch starren, mit dem Finger auf sie zeigen, sich über sie lustig machen, oder schlimmer noch, sie mit geheuchelter Freundlichkeit überschütten würden.
»Und glaube mir«, sagte Nana, »es war eine große Erleichterung für deinen Vater, mich nicht mehr in seinem Blickfeld zu haben. Das kam ihm sehr gelegen.«
Es war Jalils ältester Sohn Muhsin mit seiner ersten Frau Khadija gewesen, der den Einfall mit der Lichtung hatte. Sie lag am Rand von Gul Daman und war nur über eine holprige Schotterpiste zu erreichen, die von der Hauptstraße zwischen Herat und Gul Daman abzweigte. Zu beiden Seiten der Piste erstreckten sich Felder kniehohen Grases mit Flecken weiß und gelb blühender Blumen. Sie schlängelte sich bergan und führte auf ein Plateau voller Buschwerk, hoher Pappeln und Weiden. Von der Anhöhe aus konnte man zur Linken die verrosteten Flügelspitzen der Windmühle von Gul Daman sehen und zur anderen Seite hin ganz Herat. Die Piste endete im rechten Winkel vor einem breiten Fluss, der sich von den Safid-koh-Bergen ergoss und voller Forellen war. Knapp zweihundert Meter flussaufwärts stand ein kreisförmiger Hain aus Trauerweiden. In deren Mitte, im Schatten der Bäume, befand sich die Lichtung.
Jalil hatte sich vor Ort umgesehen. Als er zurückgekehrt sei, sagte Nana, habe er wie ein Wärter geklungen, der sich voller Stolz darüber auslasse, wie sauber und frisch das Gefängnis sei.
»Und dann hat er uns dieses Rattenloch gebaut.«
Im Alter von fünfzehn Jahren hätte Nana fast geheiratet. Der Bewerber war ein junger Mann aus Shindand gewesen, der mit Papageien handelte. Mariam erfuhr durch Nana davon, und obwohl ihre Mutter diese Geschichte als Episode abtat, erkannte man an ihrem wehmütigen Blick, dass sie sich auf die Ehe gefreut hatte. Vielleicht war sie, als es auf die Hochzeit zuging, zum ersten und bislang einzigen Mal in ihrem Leben glücklich gewesen.
Als Nana die Geschichte erzählte, saß Mariam auf ihrem Schoß und malte sich aus, wie ihre Mutter in einem Brautkleid ausgesehen hätte, auf dem Rücken eines Pferdes, mit scheuem Lächeln hinter einem grünen Schleier, die Handflächen mit Henna bemalt, das Haar mit Silberstaub gescheitelt und die Zöpfe zusammengehalten mit einem Haarfestiger aus Baumharz. Sie sah Musikanten auf der shahnai-Flöte blasen und dohol-Trommeln schlagen und Straßenkinder johlend um die Wette laufen.
Dann, eine Woche vor der Hochzeit, war ein Dschinn in Nanas Körper gefahren. Mariam brauchte keine weitere Erklärung, sie hatte oft genug mit angesehen, wie Nana plötzlich zusammenbrach und verkrampfte, wie sich die Augen nach oben wegdrehten, Arme und Beine zappelten, als würde sie von innen gewürgt, wie ihr Schaum vor den Mund trat, weißer Schaum, der manchmal mit Blut vermischt war. Und danach die Mattigkeit, die beängstigende Verwirrung, das unzusammenhängende Gestammel.
Als man in Shindand davon erfuhr, sagte die Familie des Papageienhändlers die Hochzeit ab.
»Es hat sie gegruselt«, pflegte Nana zu sagen.
Das Hochzeitskleid wurde weggepackt. Weitere Bewerber gab es nicht.
Jalil und seine Söhne Farhad und Muhsin bauten auf der Lichtung eine kleine kolba, in der Mariam die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens verbrachte. Die Hütte war mit luftgetrockneten Ziegeln aufgemauert und mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh verputzt worden. Im Inneren befanden sich zwei Schlafstellen, ein Holztisch, zwei Stühle mit gerader Lehne und an die Wand genagelte Regale, in denen Nana Tongeschirr und ihr geliebtes Teeservice aus Porzellan aufbewahrte. Jalil hatte ein gusseisernes Öfchen für den Winter besorgt und einen Vorrat an Holzscheiten hinter der kolba aufgeschichtet. Er brachte auch ein paar Schafe und baute ihnen einen Futtertrog. Vor der Tür stand ein tandoor zum Brotbacken; dahinter befand sich der eingezäunte Laufstall für die Hühner. Am Rand des Weidenhains, rund hundert Meter von der Hütte entfernt, hob er mit Farhad und Muhsin ein tiefes Loch aus und baute ein Plumpsklo darüber.
Zum Bau der kolba hätte Jalil, wie Nana sagte, auch Arbeiter anheuern können, was er aber nicht tat.
»Das ist seine Vorstellung von Buße.«
Laut Nana hatte sie am Tag der Geburt ihrer Tochter keinerlei Hilfe gehabt. Es sei an einem feuchten, wolkenverhangenen Tag im Frühjahr 1959 gewesen, sagte sie, im sechsundzwanzigsten Jahr der vierzig Jahre währenden und fast durchweg ereignislosen Regentschaft von König Sahir Schah. Sie sagte, Jalil habe sich nicht um einen Arzt gekümmert, nicht einmal um eine Hebamme, obwohl er wusste, dass der Dschinn in sie einzufahren und ein Anfall die Geburt zu gefährden drohte. Sie lag mutterseelenallein und mit schweißnassem Körper auf dem Boden der kolba, ein Messer griffbereit.
»Wenn die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren, habe ich in ein Kissen gebissen und mich heiser geschrien. Und es kam niemand, der mir den Schweiß vom Gesicht gewischt oder zu trinken gegeben hätte. Und du, Mariam jo, hattest keine Eile. Du hast mich fast zwei Tage lang auf dem kalten, harten Boden liegen lassen. Ich konnte weder essen noch schlafen; ich konnte nur pressen und beten, dass du bald kommen würdest.«
»Tut mir leid, Nana.«
»Ich habe eigenhändig die Nabelschnur durchtrennt. Dafür hatte ich das Messer.«
»Tut mir leid.«
Nana trug immer ein müdes, gequältes Lächeln im Gesicht; ob es von stillen Vorwürfen zeugte oder von der zögerlichen Bereitschaft zu verzeihen, wusste Mariam nie zu unterscheiden. Es kam der jungen Mariam nicht in den Sinn, es als unfair zu erachten, dass sie sich für die Umstände ihrer Geburt entschuldigen musste.