Eine innere Stimme versuchte sie mit gut gemeinten, aber unangebrachten Tröstungen zu besänftigen.
Du wirst andere Kinder haben, inschallah. Du bist jung. Es werden sich bestimmt weitere Gelegenheiten bieten.
Doch Mariams Trauer war alles andere als diffus. Sie trauerte um dieses Kind, dieses besondere Kind, das sie für kurze Zeit so glücklich gemacht hatte.
Manchmal glaubte sie, dass das Kind eine unverdiente Segnung und sein früher Tod eine Strafe für das war, was sie Nana angetan hatte. War es nicht so, dass sie ihrer Mutter die Schlinge gewissermaßen eigenhändig um den Hals gelegt hatte? Verräterische Töchter verdienten es nicht, selber Mütter zu werden. Die Strafe war durchaus gerecht. Mariam hatte schreckliche Träume, in denen Nanas Dschinn an ihr Bett geschlichen kam, ihr mit seinen Klauen in den Unterleib fuhr und das Kind entriss, während Nana vor Freude und Genugtuung laut auflachte.
An manchen Tagen war Mariam voller Wut. Dann gab sie Raschid die Schuld an ihrem Verlust, weil er die Stirn gehabt hatte, seinen eitlen Stolz zu feiern, in seiner Anmaßung überzeugt davon, Vater eines Sohnes zu werden. Weil er dem Kind schon einen Namen gegeben und Gottes Einverständnis einfach schon vorausgesetzt hatte. Seinetwegen war sie in dieses Badehaus gegangen, wo irgendetwas, vielleicht der Dampf, das schmutzige Wasser oder die Seife zu dem geführt hatte, was geschehen war. Nein, nicht Raschid. Die Schuld lag bei ihr. Sie wurde wütend auf sich selbst und warf sich vor, auf der falschen Seite geschlafen, das Essen zu stark gewürzt und, statt genügend Früchte zu sich zu nehmen, zu viel Tee getrunken zu haben.
Es war Gottes Schuld. Er hatte sie verhöhnt, ihr nicht gewährt, was er so vielen anderen Frauen gewährte. Er hatte ihr in quälerischer Absicht das größte Glück versprochen, um es ihr sogleich wieder zu entreißen.
Aber alles Wüten, all diese Schuldzuweisungen halfen ihr nicht weiter. Im Gegenteil. Es war kofr, frevelhaft, solche Gedanken zuzulassen. Allah war nicht gehässig und schon gar nicht ein kleinlicher Gott. Mullah Faizullahs Worte gingen ihr durch den Kopf: Segensreich ist Der, in Dessen Hand die Herrschaft ruht, Der über alle Dinge Macht hat, Der Tod und Leben geschaffen hat, damit Er dich prüfe.
Von Schuldgefühlen gepeinigt, ging Mariam in solchen Momenten in die Knie und flehte um Vergebung dafür, dass sie solchen Gedanken nachgehangen hatte.
Seit dem Tag im Badehaus zeigte sich Raschid verändert. Er verlor schnell die Geduld mit Mariam und herrschte sie dann an. Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, wechselte er kaum ein Wort mit ihr. Er aß, rauchte, ging zu Bett und kam manchmal mitten in der Nacht zu ihr, um sich abzureagieren, wobei er in letzter Zeit immer gröber zur Sache ging. Er war schnell beleidigt, mäkelte an dem Essen, das sie ihm vorsetzte, beschwerte sich über die Unordnung im Vorhof und machte sie im Haus auf Stellen aufmerksam, die seiner Meinung nach nicht sauber genug waren. Zwar führte er sie freitags immer noch manchmal in die Stadt aus, ging aber immer mehrere Schritte vor ihr her, sprach kein Wort und achtete nicht auf sie, die fast rennen musste, um ihm folgen zu können. Lachen sah sie ihn kaum noch. Er kaufte ihr auch keine Süßigkeiten oder Geschenke mehr und verzichtete darauf, Sehenswürdigkeiten zu benennen, wie er es früher getan hatte. Auf ihre Fragen antwortete er, wenn überhaupt, unwirsch.
Eines Abends saßen sie gemeinsam im Wohnzimmer und hörten Radio. Der Winter ging seinem Ende entgegen. Die kalten Winde, die einem Schnee ins Gesicht bliesen und die Augen tränen ließen, hatten sich gelegt. Der Schnee auf den Zweigen der hohen Ulmen taute. An seiner Stelle würden sich in wenigen Wochen hellgrüne Knospen ausbilden. Raschid wippte gedankenverloren mit dem Fuß zum Takt der tabla eines Hamahang-Liedes und zwinkerte den Rauch seiner Zigarette aus den Augen.
»Bist du mir gram?«, fragte Mariam.
Raschid antwortete nicht. Nach der Musik kamen die Nachrichten. Eine Frauenstimme berichtete, der Präsident habe erneut eine Gruppe sowjetischer Berater nach Moskau zurückgeschickt, wogegen der Kreml aller Voraussicht nach Protest einlegen werde.
»Ich mache mir Sorgen und fürchte, dass ich dich verärgert haben könnte.«
Raschid seufzte.
»Ist das so?«
Er sah sie an. »Wie kommst du darauf?«
»Ich weiß nicht, aber seit ich das Kind…«
»Glaubst du etwa, so einer wäre ich? Nach allem, was ich für dich getan habe?«
»Nein. Natürlich nicht.«
»Dann hör auf damit!«
»Tut mir leid. Bebakhsh, Raschid. Entschuldige.«
Er drückte den Stummel aus, steckte sich eine neue Zigarette an und drehte das Radio lauter.
»Aber ich habe nachgedacht«, sagte Mariam und versuchte, die Musik zu übertönen.
Raschid seufzte wieder, ungehaltener diesmal, und drehte die Lautstärke herunter. Müde fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. »Was jetzt?«
»Ich finde, wir sollten es anständig beisetzen. Das Kind, meine ich. Nur wir zwei, ein paar Gebete, sonst nichts.«
Diesen Gedanken hatte Mariam schon seit einiger Zeit. Sie wollte das Kind nicht vergessen und seinem Verlust ein dauerhaftes Zeichen setzen.
»Wozu? Das ist doch blödsinnig.«
»Mir wäre dann wohler zu Mute, glaube ich.«
»Dann tu’s«, schnappte er. »Einen Sohn habe ich schon begraben. Das reicht mir. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe. Ich will Radio hören.«
Er drehte die Lautstärke wieder auf, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
An einem sonnigen Morgen noch in derselben Woche suchte sich Mariam eine Stelle im Hof aus und grub ein Loch.
»Im Namen Allahs und mit Allah und im Namen Seines Gesandten, auf dem die Segnungen und der Friede Allahs ruhen«, murmelte sie, als sie das Wildledermäntelchen, das Raschid für das Kind gekauft hatte, ins Grab legte und mit Erde bedeckte.
»Du lässt die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht werden, Du lässt die Lebenden aus den Toten hervortreten und die Toten aus den Lebenden und segnest, wenn es Dir gefällt, einen jeglichen über die Maßen.«
Sie klopfte die Erde mit der Schaufel fest, hockte sich neben den kleinen Grabhügel und schloss die Augen.
Gib uns Deinen Segen, Allah. Und sei mir gnädig.
15
Am 17. April 1978, dem Jahr, in dem Mariam neunzehn werden sollte, wurde ein Mann namens Mir Akbar Khaibar ermordet aufgefunden. Zwei Tage später gab es in Kabul eine Großdemonstration. Auch alle Nachbarn waren auf der Straße. Mariam sah sie vom Fenster aus zusammenlaufen, aufgeregt miteinander diskutieren und Transistorradios ans Ohr halten. Sie sah Fariba, an die Mauer ihres Hauses gelehnt, im Gespräch mit einer Frau, die neu war in Deh-Mazang. Fariba lächelte und hielt mit beiden Händen ihren schwellenden Bauch umfasst. Die andere Frau — Mariam hatte ihren Namen vergessen — war allem Anschein nach älter als Fariba und hatte einen eigentümlich purpurnen Schimmer in ihrem dunklen Haar. Sie hielt einen kleinen Jungen an der Hand. Er hieß Tarik, wie Mariam wusste, denn sie hatte diese Frau nach ihm rufen hören.
Mariam und Raschid blieben im Haus. Sie hörten Radio, während sich Tausende von Menschen in den Straßen versammelten und vor dem Regierungssitz auf und ab marschierten. Raschid erklärte, dass Mir Akbar Khaibar ein prominenter Kommunist gewesen sei und dass seine Anhänger dem Präsidenten Daoud Khan vorwürfen, seine Ermordung veranlasst zu haben. Raschid sah sie nicht an, als er das sagte. Das tat er schon seit Tagen nicht, weshalb Mariam im Unklaren darüber blieb, ob er überhaupt mit ihr sprach oder nur mit sich selbst.