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Während in der Nacht rote und gelbe Blitze am Horizont aufleuchteten, lag Fariba erschöpft, mit verklebtem Haar und schweißnassem Gesicht auf ihrem Bett, den Oberkörper, leicht angehoben, auf die Ellbogen gestützt. Wajma, eine ältliche Hebamme, stand daneben und zeigte Faribas Mann und den beiden Söhnen das Neugeborene. Sie bestaunten das helle Haar des kleinen Mädchens, die rosigen Wangen, die winzigen Lippen und jadegrünen Augen, die sich hinter dem Schlitz der geschwollenen Lider hin und her bewegten. Sie lächelten, als sie sein Stimmchen zum ersten Mal hörten; es erschien zuerst wie das Mauzen eines Kätzchens, schwoll dann aber zu einem gesunden kehligen Schrei an. Noor verglich die Augen mit Edelsteinen. Ahmad, der Frömmste der Familie, sang seiner kleinen Schwester den athan ins Ohr und blies ihr dreimal ins Gesicht.

»Also nennen wir sie Laila, oder?«, fragte Hakim, seine Tochter wiegend.

»Laila«, sagte Fariba mit mattem Lächeln. »Nachtschönheit. Das passt.«

Raschid langte mit den Fingern in den Reis, formte ihn zu einem kleinen Kloß und führte die Hand zum Mund. Kaum hatte er davon probiert, verzog er das Gesicht und spuckte aus.

»Was ist?«, fragte Mariam mit ängstlicher Stimme, worüber sie sich selbst ärgerte. Sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte und sich die Nackenhaare aufrichteten.

»Was ist?«, äffte er sie nach. »Der Reis ist wieder mal nicht durch, das ist.«

»Aber ich habe ihn fünf Minuten länger kochen lassen als sonst.«

»Lüge.«

»Ich schwöre…«

Er schüttelte die Reiskörner von den Fingern und schob den Teller so wütend von sich, dass die Hälfte von Reis und Sauce auf die sofrah schwappte. Dann stürmte er aus dem Wohnzimmer, verließ das Haus und schlug die Tür hinter sich zu.

Mariam ging in die Knie und machte sich daran, das verschüttete Essen auf den Teller zurückzuschieben, musste aber innehalten, weil ihre Hände zu sehr zitterten. Der Schrecken war ihr in die Glieder gefahren. Sie versuchte, tief durchzuatmen. Zufällig fiel ihr Blick auf ihr bleiches Spiegelbild in der Fensterscheibe. Sie schaute weg.

Wenig später ging die Haustür wieder auf. Raschid kehrte ins Wohnzimmer zurück.

»Steh auf«, zischte er. »Steh auf und komm her.«

Er zerrte sie in die Höhe und drückte ihr Kieselsteine in die Hand.

»Steck sie in den Mund.«

»Was?«

»Steck. Sie. In den Mund.«

»Lass gut sein, Raschid, ich…«

Um sie zu zwingen, den Mund zu öffnen, quetschte er ihr mit seiner Pranke die Kieferknochen. Mariam wehrte sich, kam aber nicht gegen ihn an und musste geschehen lassen, dass er ihr einen Kieselstein nach dem anderen in den Mund stopfte.

»Und jetzt kau«, verlangte er, die Oberlippe höhnisch verzerrt.

Die Zunge voller Sand und Steine, flehte sie ihn brabbelnd an. Tränen traten ihr in die Augen.

»KAU!«, brüllte er und stieß ihr einen Nikotinschwall ins Gesicht.

Mariam kaute. Im hinteren Teil des Mundes knackte etwas.

»Gut«, sagte Raschid. Seine Wangen bebten. »Jetzt weißt du, wie dein Reis schmeckt. Jetzt weißt du, was du mir als Ehefrau bietest. Ungenießbares Essen und sonst nichts.«

Dann war er wieder verschwunden. Mariam blieb zurück und spuckte Steine, Blut und die Trümmer zweier Backenzähne aus.

Zweiter Teil

16

Kabul, Frühjahr 1987

Laila, inzwischen neun Jahre alt, konnte es schon morgens nach dem Aufstehen kaum erwarten, ihren Freund Tarik zu sehen. Heute aber würde sie, wie sie wusste, nicht mit ihm zusammen sein können.

»Wie lange wirst du wegbleiben?«, hatte sie ihn gefragt, nachdem er ihr erzählt hatte, dass er mit seinen Eltern nach Ghazni in den Süden fahren werde, um den Onkel väterlicherseits zu besuchen.

»Dreizehn Tage.«

»Dreizehn Tage?«

»Die sind schnell rum. Kein Grund, so ein Gesicht zu machen.«

»Was mach ich denn für ein Gesicht?«

»Du wirst doch nicht etwa heulen?«

»Quatsch. Wegen dir schon gar nicht. Nicht in tausend Jahren.«

Sie hatte ihm einen Tritt vors Schienbein versetzt, und zwar nicht vor das künstliche, sondern das gesunde, worauf er ihr einen neckischen Klaps auf den Hinterkopf gegeben hatte.

Dreizehn Tage. Fast zwei Wochen. Und es waren erst fünf Tage vergangen, fünf Tage, in denen Laila eine grundlegende Erkenntnis über die Zeit gewonnen hatte: Wie das Akkordeon, mit dem Tariks Vater manchmal Paschto-Lieder vortrug, zog sich die Zeit dahin oder schrumpfte zusammen, je nachdem, ob Tarik abwesend oder bei ihr war.

Unten im Parterre stritten sich die Eltern. Wieder einmal. Laila kannte es zur Genüge: Mami, wütend und unbeherrscht, würde zeternd im Zimmer auf und ab marschieren, während Babi mit betretener Miene dasäße, brav mit dem Kopf nickte und darauf wartete, dass sich der Sturm legte. Laila machte die Tür zu, doch das Gezeter blieb unüberhörbar. Mamis Gezeter. Schließlich fiel eine Tür ins Schloss. Jemand kam mit stampfenden Schritten die Treppe herauf. Die Sprungfedern von Mamis Bett quietschten. Babi, so schien es, hatte auch diesen Streit überlebt.

»Laila!«, rief er. »Ich komm zu spät zur Arbeit.«

»Augenblick noch!«

Sie schlüpfte in ihre Schuhe, trat vor den Spiegel und fuhr sich mit der Bürste durch die schulterlangen blonden Locken. Mami behauptete, dass Laila ihre Haarfarbe von der Urgroßmutter, Mamis Großmutter, geerbt habe, so auch die türkisgrünen Augen mit den dichten Wimpern, die Wangengrübchen und die volle Unterlippe. »Sie war ein pari, eine Augenweide,« sagte Mami von ihrer Großmutter. »Von ihrer Schönheit wurde im ganzen Tal geschwärmt. Sie hat zwei Generationen in unserer Familie übersprungen, aber mit dir, Laila, ist sie wieder voll zur Entfaltung gekommen.« Das Tal, auf das sich Mami bezog, war das Pandschir-Tal hundert Kilometer nordöstlich von Kabul, die Region der Farsisprechenden Tadschiken. Dort waren auch Mami und Babi als Cousin und Cousine ersten Grades zur Welt gekommen und aufgewachsen, ehe sie in den sechziger Jahren, frisch verheiratet, nach Kabul gingen, weil Babi eine Zulassung zum Universitätsstudium erworben hatte.

Auf Zehenspitzen schlich Laila an Mamis Zimmer vorbei und die Treppe hinunter. Unten angekommen, sah sie Babi vor der Fliegengittertür knien.

»Hast du das gesehen, Laila?«

Babi machte auf einen Riss aufmerksam, den es schon seit Wochen in der Tür gab. Laila kauerte sich neben ihn. »Nein. Scheint neu zu sein.«

»Genau das habe ich auch deiner Mutter gesagt.« Er machte einen zerknitterten Eindruck, wie immer, wenn Mami mit ihm fertig war. »Sie beklagt sich über die vielen Bienen im Haus.«

Babi war ein kleiner Mann mit schmalen Schultern und schlanken, zarten, fast fraulich wirkenden Händen. Wenn Laila ihn abends in seinem Zimmer aufsuchte, sah sie ihn fast immer vor einem aufgeschlagenen Buch sitzen, die Brille auf der Nasenspitze. Manchmal bemerkte er sie gar nicht, wenn aber doch, legte er ein Lesezeichen zwischen die Seiten und lächelte sie mit geschürzten Lippen an. Babi kannte einen Großteil der Gaselen von Rumi und Hafis auswendig. Er konnte stundenlang vom Kampf der Briten mit dem zaristischen Russland um Afghanistan erzählen. Er wusste den Unterschied zwischen Stalaktiten und Stalagmiten zu erklären und hatte ausgerechnet, dass der Abstand zwischen Erde und Sonne eine halbe Million Mal größer ist als die Entfernung zwischen Kabul und Ghazni. Wenn es aber darum ging, den Deckel eines Marmeladenglases zu öffnen, musste sich Laila an Mami wenden, was ihr immer ein wenig wie Verrat vorkam. Mit praktischen Dingen war Babi überfordert. Unter seiner Verwaltung blieben quietschende Türangeln auf ewig ungeölt, ein angeblich geflicktes Leck im Dach ließ mehr Regenwasser durchsickern als vorher, und der Schimmel in den Küchenschränken wucherte ungehindert weiter. Mami sagte, dass sich Ahmad um all diese Dinge gekümmert habe, bevor er 1980 zusammen mit Noor in den Dschihad gegen die Sowjets gezogen war.