»Aber wenn du ein Buch hast, das dringend gelesen werden muss, ist Hakim genau der Richtige«, frotzelte sie.
Laila allerdings wurde das Gefühl nie los, dass ihre Mutter vor dem Tag, als Ahmad und Noor in den Krieg gezogen waren — bevor Babi dies zugelassen hatte —, die schrullige Stubengelehrsamkeit ihres Mannes freundlicher aufgenommen und sie früher einmal seine Vergesslichkeit und Ungeschicklichkeit durchaus charmant gefunden hatte.
»Na, den wievielten Tag haben wir denn heute?«, fragte er verschmitzt. »Den fünften? Oder schon den sechsten?«
»Was weiß ich? Glaubst du etwa, ich zähle mit?«, entgegnete Laila und zuckte mit den Achseln, freute sich aber im Stillen über sein Mitgefühl. Mami hatte gar nicht zur Kenntnis genommen, dass Tarik weggefahren war.
»Wart’s ab, eh du dich versiehst, wird er wieder seine Blinklichter setzen«, sagte Babi in Anspielung auf Lailas und Tariks allnächtlichen Austausch von Grußnoten per Taschenlampe. Die beiden spielten dieses Spiel schon so lange, dass es ihnen so selbstverständlich war wie das Zähneputzen vorm Zubettgehen.
Babi griff mit der Hand durch den Riss. »Den sollte ich also dann wohl so schnell wie möglich flicken. Aber jetzt müssen wir uns beeilen.« Und mit lauter Stimme rief er durch den Flur: »Wir gehen jetzt, Fariba. Ich bringe Laila zur Schule. Vergiss nicht, sie abzuholen.«
Als Laila draußen auf den Gepäckträger von Babis Fahrrad stieg, fiel ihr ein Auto auf, das vor dem Haus parkte, in dem der Schuhmacher Raschid und seine scheue Frau wohnten. Es war ein dunkelblauer Benz mit einem weißen Mittelstreifen auf Motorhaube, Dach und Kofferraum. Laila sah zwei Männer darin sitzen, den einen hinterm Steuer, den anderen auf der Rückbank.
»Wer ist das?«, fragte sie.
»Das geht uns nichts an«, antwortete Babi. »Los jetzt, sonst kommen wir noch zu spät.«
Laila erinnerte sich an einen länger zurückliegenden Streit zwischen den Eltern und die schnippischen Worte ihrer Mutter: »Ja, das ist typisch für dich, nicht wahr, lieber Vetter, dass du dich aus allem heraushältst. Sogar dann, wenn’s um die eigenen Söhne geht. Wie hab ich dich angefleht, zu verhindern, dass sie gehen. Aber stattdessen steckst du deine Nase in diese verfluchten Bücher und lässt sie ziehen wie zwei haramis.«
Babi radelte die Straße entlang. Laila hatte die Arme um seinen Bauch geschlungen. Als sie an dem blauen Benz vorbeikamen, erhaschte Laila einen Blick auf den Mann, der auf dem Rücksitz saß. Er war sehr hager, hatte weißes Haar und trug einen dunkelbraunen Anzug mit einem weißen dreieckigen Einstecktuch in der Brusttasche. Außerdem fiel ihr auf, dass der Wagen Nummernschilder aus Herat hatte.
Schweigend fuhren die beiden weiter. Von Babi war nur etwas zu hören, wenn er vor einer Kurve abbremste und sagte: »Halt dich fest, Laila. Vorsichtig, schön vorsichtig.«
Nur mit Mühe konnte Laila an diesem Tag dem Unterricht folgen; sie dachte immerzu an Tarik, und auch der Streit zwischen den Eltern wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. So hatte sie auch nicht aufgepasst, als die Lehrerin sie nach den Hauptstädten Rumäniens und Kubas fragte.
Die Lehrerin hieß Shanzai, wurde aber hinter ihrem Rücken Khala Rangmaal genannt, Tante Malerin, denn wenn sie einen Schüler ohrfeigte, ließ sie in schneller Abfolge Handrücken und Handteller aufklatschen, was so aussah, als schwenkte ein Maler seinen Pinsel. Khala Rangmaal war eine junge Frau mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und dichten Augenbrauen. An ihrem ersten Schultag hatte sie voll Stolz erklärt, dass sie die Tochter eines armen Landarbeiters aus Khost sei. Sie hielt sich sehr gerade und hatte ihr pechschwarzes Haar zu einem festen Knoten im Nacken zusammengefasst. Wenn sie sich umdrehte, konnte man den dunklen Haaransatz im Nacken erkennen. Make-up oder Schmuck waren an ihr nie zu sehen. Sie trug auch keine Kopfbedeckung und verbat ihren Schülerinnen, sich zu verschleiern. Sie sagte, Frauen und Männer seien in jeder Hinsicht ebenbürtig und es gebe keinen Grund, warum sich Frauen verhüllen sollten, wenn Männer dies nicht täten.
Ihrer Meinung nach war die Sowjetunion, von Afghanistan abgesehen, die beste Nation auf der Welt. Ihre Führung stehe, wie sie sagte, auf Seiten der Arbeiterschaft und behandle alle Menschen gleich; alle Bürger der Sowjetunion seien glücklich und freundlich. Amerikaner hingegen würden sich aus Angst vor kriminellen Übergriffen kaum aus dem Haus trauen. Aber in Afghanistan, sagte sie, würden auch bald alle glücklich sein, sobald die Banditen von gestern, die sich gegen jeden Fortschritt stemmten, endlich geschlagen wären.
»Darum sind unsere sowjetischen Brüder 1979 in unser Land gekommen. Um ihren Nachbarn zu Hilfe zu eilen und den inneren Feind zurückzudrängen, dem daran gelegen ist, dass unser Land eine rückständige, primitive Nation bleibt. Auch ihr müsst helfen, Kinder. Ihr müsst jeden zur Anzeige bringen, der auf der Seite des Feindes steht. Das ist eure Pflicht. Haltet die Augen auf und erstattet Meldung. Selbst dann, wenn es eure Eltern, Onkel oder Tanten trifft. Denn keiner liebt euch so sehr, wie es euer Land tut. Denkt daran, euer Land steht immer an erster Stelle. Es wird stolz auf euch sein, so wie ich es bin.«
An der Wand hinter ihrem Pult hingen eine Karte der Sowjetunion, eine Karte Afghanistans und ein gerahmtes Foto des jüngsten kommunistischen Staatspräsidenten Nadschibullah, der, wie Laila von Babi wusste, früher Chef der Geheimpolizei KH AD gewesen war. Darüber hinaus gab es noch weitere Fotos im Klassenzimmer, vor allem von jungen sowjetischen Soldaten, die Apfelbäume pflanzten, Häuser bauten, immer freundlich lächelten und einfachen Bauern die Hände schüttelten.
»Nun«, sagte Khala Rangmaal, »störe ich dich etwa beim Träumen, inqilabi-Mädchen?«
So lautete Lailas Spitzname — Revolutionsmädchen —, denn sie war in der Aprilnacht des Putsches von 1978 zur Welt gekommen –allerdings nahm man im Beisein von Khala Rangmaal das Wort »Putsch« lieber nicht in den Mund. Sie bestand darauf, von einer inqilab zu sprechen, von einer Revolution der arbeitenden Bevölkerung. Verboten war auch das Wort »Dschihad«. Sie leugnete, dass in den Provinzen Krieg herrsche; es könne allenfalls von Auseinandersetzungen mit Unruhestiftern die Rede sein, mit »ausländischen Provokateuren«, wie sie sagte. Und niemand, wirklich niemand wagte es, in ihrer Gegenwart jenes immer weiter um sich greifende Gerücht anzusprechen, wonach den Sowjets nach achtjährigem Kampfeinsatz in Afghanistan eine Niederlage in diesem Krieg bevorstehe. Und das schon bald, weil der amerikanische Präsident Reagan, wie es hieß, den Mudschaheddin Stinger-Raketen zur Verfügung stellte, mit denen sie sowjetische Hubschrauber abschießen konnten. Außerdem, so hieß es weiter, kämen aus der ganzen Welt — aus Ägypten, Pakistan und Saudi-Arabien — Muslime ins Land, um die Rebellen zu unterstützen.
»Bukarest. Havanna«, antwortete Laila.
»Und sind die Menschen dort unsere Freunde oder nicht?«
»Ja, das sind sie, moalim sahib. Unsere Freunde.«
Khala Rangmaal zeigte sich mit einem knappen Kopfnicken einverstanden.
Bei Schulschluss war Mami wieder einmal nicht pünktlich zur Stelle. Laila ging schließlich zu Fuß nach Hause, begleitet von ihren Klassenkameradinnen Giti und Hasina.
Giti war ein mageres kleines Mädchen mit zwei seitlich abstehenden Pferdeschwänzen. Sie sah meist grimmig drein und hielt ihre Bücher wie einen Schild vor der Brust. Hasina war zwölf, drei Jahre älter als Laila und Giti; sie hatte die dritte Klasse wiederholen müssen und machte nun schon ihren dritten Anlauf in der vierten. Was ihr an Grips fehlte, machte sie durch Unfug weg und mit einem Mund, der, wie Giti sagte, einer Nähmaschine gleiche. Es war Hasina, die den Spitznamen der Lehrerin geprägt hatte.