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»Ihr Bruder war krank?«, fragte Laila und tauchte den Löffel in das Dessert aus gewässerten Rosinen, Pistazien und Aprikosen.

Er steckte sich gerade eine Zigarette an. »Ja, aber jetzt geht’s ihm schon viel besser, shokr e Khoda, Gott sei Dank.«

»Er hatte seinen zweiten Herzinfarkt«, erklärte Tariks Mutter und bedachte ihren Mann mit strengem Blick.

Der blies Rauch in die Luft und zwinkerte Laila zu. Tariks Eltern hätte man durchaus auch für seine Großeltern halten können. Seine Mutter war schon weit über vierzig gewesen, als sie ihn zur Welt gebracht hatte.

»Wie geht’s deinem Vater, meine Liebe?«, fragte Tariks Mutter über den Rand ihrer Schale hinweg.

Sie trug, so lange Laila sie kannte, eine Perücke, die inzwischen einen stumpfen Violettton angenommen hatte. Heute saß sie etwas zu tief in der Stirn und ließ an den Seiten graue Haare zum Vorschein treten. Manchmal war sie auch zu weit in den Nacken gerutscht. Auf Laila aber machte Tariks Mutter nie einen bedauernswerten Eindruck. Laila sah unter der Perücke ein ruhiges, selbstbewusstes Gesicht, kluge Augen und ein angenehmes, gelassenes Wesen.

»Ihm geht’s gut«, antwortete Laila. »Er arbeitet natürlich immer noch für Silo, scheint aber zufrieden zu sein.«

»Und deine Mutter?«

»Hat ihre guten und schlechten Tage. Wie immer.«

»Ja«, sagte Tariks Mutter, nachdenklich in ihrer Schale rührend. »Es muss einer Mutter schrecklich schwer ums Herz sein, wenn ihre Söhne fort sind.«

»Bleibst du zum Mittagessen?«, fragte Tarik.

»Unbedingt«, sagte seine Mutter. »Es gibt shorwa

»Ich will nicht mozahem sein.«

»Aufdringlich?«, sagte Tariks Mutter. »Kaum sind wir ein paar Wochen weg, und schon wirst du uns gegenüber genierlich.«

»Na schön, ich bleibe«, entgegnete Laila errötend und lächelte.

»Das wäre also abgemacht.«

Tatsächlich aß Laila mit Tarik und dessen Eltern viel lieber als bei sich zu Hause, wo sie meist allein am Tisch saß. Sie mochte die lilafarbenen Plastikbecher, die hier zum Trinken benutzt wurden, und den Wasserkrug, in dem immer Zitronenspalten schwammen. Es gefiel ihr, dass jede Mahlzeit mit einer Schale frischem Joghurt begann und alles mit dem Saft saurer Orangen gewürzt wurde, selbst der Joghurt, und dass immer kleine harmlose Hänseleien ausgetauscht wurden.

Bei Tisch gab es stets viel zu erzählen. Tarik und seine Eltern waren zwar Paschtunen, aber in Lailas Beisein wurde Farsi gesprochen, obwohl sie Paschto in der Schule lernte und mehr oder weniger gut verstand. Von Babi wusste sie, dass es Spannungen gab zwischen der Minderheit der Tadschiken und den Paschtunen, der größten Volksgruppe in Afghanistan. »Die Tadschiken fühlen sich seit eh und je benachteiligt«, hatte Babi gesagt. »Fast zweihundertfünfzig Jahre lang herrschten Paschtunenkönige; nur einmal, 1929, war ein Tadschike an der Macht, ein Rebell, Deserteur und Wegelagerer mit dem Beinamen Der Sohn des Wasserträgers. Er raubte den Thron, wurde aber schon nach neun Monaten Regentschaft hingerichtet.«

»Und du«, hatte Laila gefragt, »fühlst du dich auch benachteiligt, Babi?«

Babi hatte seine Brille am Saum des Hemdes geputzt. »Für mich ist das alles blanker Unsinn, ein gefährlicher dazu, wenn der eine betont, Tadschike zu sein, und der andere stolz darauf ist, den Paschtunen, Hazaras oder Usbeken anzugehören. Wir sind alle Afghanen, und darauf sollte es ankommen. Aber wenn eine Volksgruppe so lange Zeit über eine andere herrscht, ja, dann entsteht böses Blut, dann kommt’s zu Hass und Feindschaft. So ist es immer gewesen.«

Vielleicht. Aber von solchen Spannungen war in Tariks Haus nie etwas zu spüren. Herkunft oder Sprache spielten hier keine Rolle, und es gab auch keine Gehässigkeiten, die die Atmosphäre vergiftet hätten. Laila fühlte sich im Kreis der Familie rundum wohl und ungezwungen.

»Wie war’s mit einem Kartenspielchen?«, schlug Tarik vor.

»Ja, geht nach oben«, sagte seine Mutter, die sich gerade naserümpfend gegen den Qualm aus dem Mund ihres Mannes zur Wehr setzte. »Ich werde mich derweil um die shorwa kümmern.«

Die beiden lagen bäuchlings mitten in Tariks Zimmer und teilten abwechselnd die Karten zu einer weiteren Runde panjpar aus. Tarik schwenkte den gesunden Fuß in der Luft und berichtete von seiner Reise. Von den jungen Pfirsichbäumen, die er mit seinem Onkel gepflanzt hatte. Von der im Garten gefangenen Schlange.

In diesem Zimmer machten Laila und Tarik auch ihre Hausaufgaben, hier bauten sie Türme aus Karten und zeichneten lustige Porträts vom jeweils anderen. Wenn es regnete, lehnten sie an der Fensterbank, tranken lauwarme, sprudelnde Orangenlimonade und betrachteten die an der Scheibe entlangrinnenden Tropfen.

Sie zählten die vorbeifahrenden Autos und stellten einander Rätselfragen.

»Hör zu«, sagte Laila, die Karten mischend. »Was reist um die ganze Welt, bleibt aber immer in einer Ecke kleben?«

»Augenblick.« Tarik richtete sich auf und wuchtete seine Beinprothese herum. Mit einem Stöhnen legte er sich auf die Seite, den Kopf auf die Hand gestützt. »Reich mir mal das Kissen.« Er stopfte es sich unters Bein. »Schon besser.«

Laila erinnerte sich an den Augenblick, als er ihr zum ersten Mal den Stumpf gezeigt hatte. Sie war damals sechs gewesen. Mit einem Finger hatte sie die gespannte, glänzende Haut unter dem linken Knie befühlt und kleine feste Knoten darunter ertastet, Knochensporne, wie Tarik erklärte, die sich nach einer Amputation manchmal bildeten. Auf ihre Frage, ob der Stumpf schmerze, hatte er gesagt, dass er abends häufig wehtue, wenn er geschwollen sei und die Prothese kneifen würde wie ein Fingerhut am Daumen. »Manchmal ist er auch ganz wund gescheuert. Besonders an heißen Tagen. Dann bilden sich Ausschlag und Blasen. Aber dafür hat meine Mutter Salben, die helfen. Ist halb so schlimm.«

Laila war in Tränen ausgebrochen.

»Warum weinst du?« Er hatte die Prothese wieder angeschnallt. »Du wolltest es sehen, giryanok, du Heulsuse. Wenn ich gewusst hätte, dass dir das so viel ausmacht, hätte ich’s dir nicht gezeigt.«

»Eine Briefmarke«, antwortete er jetzt.

»Was?«

»Die Lösung deines Rätsels. Briefmarke. Wollen wir nach dem Essen in den Zoo gehen?«

»Du kanntest es schon, stimmt’s?«

»Nein.«

»Lüg nicht.«

»Du bist ja nur neidisch.«

»Worauf?«

»Auf meine maskuline Cleverness.«

»Deine maskuline Cleverness? Dass ich nicht lache. Wer gewinnt denn jede Schachpartie?«

»Ich lasse dich gewinnen«, antwortete er lachend. Sie wussten beide, dass dem nicht so war.

»Und wer kommt in Mathe nicht mit? Wem muss ich immer bei den Hausaufgaben helfen, obwohl du eine Klasse über mir bist?«

»Ich wäre schon zwei Klassen weiter, wenn mich Mathe nicht so langweilen würde.«

»Erdkunde langweilt dich dann wohl auch.«

»Woher weißt du das? Schluss jetzt. Gehen wir in den Zoo, ja oder nein?«

Laila lächelte. »Ja.«

»In Ordnung.«

»Du hast mir gefehlt.«

Es entstand eine Pause. Dann wandte sich Tarik ihr mit einer Miene zu, die, halb grinsend, halb grimassierend, Missfallen zum Ausdruck bringen sollte. »Was ist bloß los mit dir?«

Den Schulfreundinnen fiel es nicht schwer, diese vier Wörter zu sagen, wenn sie sich einmal zwei oder drei Tage lang nicht gesehen hatten. »Du hast mir gefehlt, Hasina.« — »Oh, du mir auch.« Tariks Grimasse aber zeigte ihr, dass Jungs in dieser Hinsicht anders waren. Sie machten kein Aufhebens um freundschaftliche Gefühle und hatten offenbar nicht das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Von ihren Brüdern, so dachte Laila, wäre wahrscheinlich auch nicht mehr zu erwarten. Anscheinend war für Jungen Freundschaft so selbstverständlich wie die Sonne; man genoss ihre Wärme,