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setzte sich den Strahlen aber lieber nicht direkt aus.

»Ich wollte dich nur ein bisschen ärgern«, sagte sie.

Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Das ist dir gelungen.«

Immerhin war, wie sie bemerkte, seine Miene nun wieder entspannter, und es schien, als hätte die Sonnenbräune seiner Wangen für einen Moment zugenommen.

Laila hatte eigentlich kein Wort darüber verlieren wollen, denn ihr war klar, dass Tarik die Sache nicht auf sich beruhen lassen konnte und irgendjemand verletzt werden würde. Doch als sie später das Haus verließen und auf die Bushaltestelle zugingen, sah sie Khadim im Kreis seiner Freunde an einer Mauer lehnen, die Daumen in den Hosenbund gesteckt und mit trotzigem Grinsen im Gesicht.

Da platzte es aus ihr heraus, und sie erzählte Tarik, was vorgefallen war.

»Was hat er getan?«

Sie wiederholte die Geschichte.

Er zeigte mit dem Finger auf Khadim. »Der da? Er war’s? Bist du dir sicher?«

»Ja.«

Tarik biss die Zähne zusammen und stieß einen Satz auf Paschto hervor, den Laila nicht verstand. »Du wartest hier«, sagte er wieder auf Farsi.

»Nein, Tarik…«

Doch er war schon losgegangen.

Khadim grinste nicht mehr, als er ihn kommen sah. Er stieß sich von der Mauer ab, nahm die Daumen aus dem Hosenbund und straffte die Schultern. Er gab sich alle Mühe, bedrohlich zu wirken. Die anderen folgten seinem Beispiel.

Laila bereute, Tarik von dem Vorfall erzählt zu haben. Was, wenn die ganze Meute — wie viele waren es? Elf, zwölf? — über ihn herfallen würde? Was, wenn sie ihn verletzten?

Tarik blieb wenige Meter vor Khadim und seiner Bande stehen. Er schien zu zögern, und als er sich bückte, glaubte Laila, dass er seine Schnürsenkel festzubinden vortäuschte, um dann zu ihr zurückzukehren. Aber dann sah sie, was er tatsächlich vorhatte.

Die anderen sahen es auch. Tarik richtete sich auf und hüpfte, die Prothese wie ein Schwert hoch über dem Kopf erhoben, einbeinig in weiten Sätzen auf Khadim zu.

Die Jungen stoben auseinander und machten ihm den Weg frei. Dann wirbelte Staub auf, Fäuste flogen, es wurde getreten und geschrien. Khadim belästigte Laila nie wieder.

Wie an den meisten Tagen deckte Laila auch an diesem Abend den Tisch nur für zwei. Meist hatte Mami entweder keinen Hunger, oder sie ging mit dem Teller auf ihr Zimmer, ehe Babi zurückkehrte, und wenn Laila und Babi zu Tisch saßen, lag sie schon im Bett.

Wenn Babi von der Arbeit kam, ging er zuerst immer ins Badezimmer, um sich den Mehlstaub aus den Haaren zu spülen.

»Was gibt’s heute?«, fragte er, als er, frisch gewaschen und die Haare zurückgekämmt, das Wohnzimmer betrat.

»Den Rest der aush-Suppe.«

»Prima«, sagte er und faltete das Handtuch zusammen, mit dem er sich abgetrocknet hatte. »Und womit werden wir uns anschließend beschäftigen? Mit der Addition von Brüchen?«

»Diesmal muss ich Brüche in Dezimalzahlen auflösen.«

»Ah. Richtig.«

Jeden Abend half Babi seiner Tochter bei den Hausaufgaben und stellte ihr dann auch noch zusätzliche Aufgaben. Er wollte, dass Laila ihren Mitschülerinnen stets einen oder zwei Schritte voraus war. Nicht, dass er den von der Schule angebotenen Lernstoff für allzu dürftig erachtet hätte. Im Gegenteil, ungeachtet der ideologischen Propaganda, die dort vermittelt wurde, hielt er den Kommunisten immerhin eines zugute, und das war ironischerweise deren Wertschätzung für Ausbildung und Lehre, von der sie ihn selbst ausgeschlossen hatten. Zumindest hatten die Kommunisten sich das auf die Fahnen geschrieben, insbesondere die Ausbildung von Frauen. Die Regierung finanzierte Alphabetisierungskurse für alle Frauen. Inzwischen seien, sagte Babi, fast zwei Drittel der Studierenden an der Universität von Kabul Frauen, die nicht zuletzt auch Studienfächer wie Jura, Medizin und Ingenieurwissenschaften belegten.

»Frauen hatten es immer schwer in diesem Land, Laila. Jetzt, unter den Kommunisten, sind sie womöglich freier als je zuvor; jedenfalls haben sie mehr Rechte«, hatte er mit gedämpfter Stimme gesagt, weil er sich vor Mami hütete, die an den Kommunisten kein gutes Haar lassen mochte. »Es ist wahr, für afghanische Frauen sind gute Zeiten angebrochen, und auch du kannst davon profitieren, Laila.« An dieser Stelle hatte er bekümmert den Kopf geschüttelt und hinzugefügt: »Leider ist dies, die Freiheit der Frauen, einer der Gründe, warum die Leute da draußen zu den Waffen greifen.«

Mit »da draußen« war nicht Kabul gemeint, deren Bürger immer schon als vergleichsweise liberal und progressiv galten. Hier in Kabul lehrten Frauen sogar an der Universität, sie übten Regierungsämter aus und leiteten Schulen. Nein, Babi meinte die Stammesgebiete, insbesondere die der Paschtunen im Süden oder die Region im Osten nahe der pakistanischen Grenze, wo sich Frauen nur noch in Burka und in männlicher Begleitung auf den Straßen zeigen durften. Er meinte jene Gebiete, wo Männer nach alten Stammesregeln lebten und gegen die Kommunisten rebellierten, weil diese die Zwangsehe abzuschaffen versuchten und das heiratsfähige Alter für Mädchen auf sechzehn Jahre heraufgesetzt hatten. Von einer Regierung — zumal einer gottlosen — vorgeschrieben zu bekommen, dass ihre Töchter zur Schule gehen und am Arbeitsplatz den Männern gleichgestellt sein müssten, kam für Männer einer Beleidigung jahrhundertealter Traditionen gleich.

»Gott bewahre, dass so etwas passiert!«, frotzelte Babi gern. Dann seufzte er immer und sagte: »Laila, meine Liebe, der einzige Feind, den eine Afghane niemals wird bezwingen können, ist niemand anders als er selbst.«

Babi setzte sich an den Kopf des Tisches und tunkte ein Stück Brot in seine aush.

Laila hatte vor, ihm von der Schlägerei zwischen Tarik und Khadim zu erzählen. Doch dazu kam sie nicht, denn plötzlich klopfte es an der Tür.

19

»Ich muss mit deinen Eltern sprechen, dokhtar jan.« Laila hatte einem fremden Mann die Tür geöffnet. Er war untersetzt, sein Gesicht scharf geschnitten und vom Wetter gegerbt. Er trug einen sandfarbenen Mantel und einen braunen wollenen pakol auf dem Kopf.

»Wie ist Ihr Name?«

Dann lag Babis Hand auf Lailas Schulter. Sanft zog er sie von der Tür weg und sagte: »Du gehst jetzt besser nach oben auf dein Zimmer.«

Als sie sich auf die Treppe zubewegte, hörte Laila den Besucher sagen, dass er Nachrichten aus dem Pandschir-Tal habe. Mami war inzwischen auch im Wohnzimmer. Sie hielt eine Hand vor den Mund gedrückt und ließ ihren Blick zwischen Babi und dem Mann mit dem pakol hin und her springen.

Laila lugte durch den Türspalt und sah, wie der Fremde, nachdem er und ihre Eltern Platz genommen hatten, sich nach vorn beugte und die Lippen bewegte. Plötzlich wurde Babi kreidebleich. Er starrte auf seine Hände. Mami fing zu schreien an und zerrte sich an den Haaren.

Am nächsten Morgen, dem Tag der fatiha, kamen Nachbarinnen ins Haus und sorgten für die Vorbereitung des khatm-Mahls, das nach der Trauerfeier stattfinden sollte. Mami saß den ganzen Vormittag über mit verquollenem Gesicht auf der Couch und nestelte an einem Taschentuch. Zwei Frauen saßen rechts und links von ihr; abwechselnd betätschelten sie ihre Hand und waren so vorsichtig dabei, dass man hätte meinen können, Mami sei eine seltene, zerbrechliche Puppe. Sie selbst schien die Frauen gar nicht wahrzunehmen.