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Als ihr dieser Gedanke dann doch schließlich in den Sinn kam — um die Zeit, als sie zehn Jahre alt wurde —, mochte sie an die Geschichte ihrer schweren Geburt nicht mehr glauben. Sie glaubte vielmehr der Version Jalils, der sagte, dass er zwar nicht zugegen gewesen sei, aber für Nanas Betreuung in einem Krankenhaus in Herat gesorgt habe, wo ihr in einem hellen Zimmer ein frisch bezogenes Bett zur Verfügung gestellt worden sei. Als Mariam ihm von dem Messer erzählte, schüttelte Jalil nur traurig den Kopf.

Mariam fing auch daran zu zweifeln an, dass sie die Mutter zwei volle Tage hatte leiden lassen.

»Mir wurde gesagt, dass es keine Stunde gedauert hat«, erklärte Jalil. »Du bist ein gutes Mädchen, Mariam jo. Schon bei der Geburt warst du ein gutes Mädchen.«

»Er war nicht einmal zur Stelle!«, spuckte Nana aus. »Er war im Takht-e-Safar, auf einem Ausritt mit seinen teuren Freunden.«

Als ihm von der Geburt seiner Tochter berichtet worden sei, sagte Nana, habe Jalil nur mit den Schultern gezuckt, den Hals seines Pferdes getätschelt und noch weitere zwei Tage im Takht-e-Safar zugebracht.

»Tatsache ist, dass du schon einen Monat alt warst, als er dich das erste Mal auf den Arm nahm, und das auch nur, um einen einzigen Blick auf dich zu werfen und sich über dein längliches Gesicht zu mokieren. Dann gab er dich mir zurück.«

Auch an diesem Teil der Geschichte begann Mariam zu zweifeln. Zugegeben, sagte Jalil, er sei im Park von Takht-e-Safar gewesen, habe aber nicht mit den Schultern gezuckt, als ihm Mariams Geburt mitgeteilt worden sei. Nein, er habe sich sofort in den Sattel geschwungen und sei nach Herat zurückgeritten. Er habe sie in seinen Armen geschaukelt, mit dem Daumen ihre flockigen Augenbrauen nachgezeichnet und ein Wiegenlied gesummt. Mariam konnte sich nicht vorstellen, dass Jalil eine abfällige Bemerkung über ihr Gesicht gemacht hatte, obwohl es in der Tat recht lang geraten war.

Nana behauptete, dass sie den Namen Mariam gewählt habe, weil das der Name ihrer Mutter gewesen sei. Jalil hingegen sagte, er sei auf den Namen gekommen, denn Mariam werde auch die Nachthyazinthe genannt, und das sei eine wunderschöne Blume.

»Deine Lieblingsblume?«, fragte Mariam.

»Nun, eine meiner Lieblingsblumen«, antwortete er und lächelte.

3

Eine der am weitesten zurückreichenden Erinnerungen von Mariam war das Geräusch eisenbeschlagener Karrenräder auf felsigem Grund. Einmal im Monat kam dieser Karren, beladen mit Reis, Mehl, Tee, Zucker, Speiseöl, Seife und Zahnpasta. Er wurde geschoben von zwei Halbbrüdern Mariams, meist von Muhsin und Ramin, manchmal auch von Ramin und Farhad. Auf der steilen Strecke bergan wechselten sich die Jungen beim Schieben ab, bis sie den Fluss erreichten, wo der Karren geleert und seine Ladung per Hand übers Wasser getragen wurde. Dann brachten die Brüder auch den Karren auf die andere Uferseite, beluden ihn erneut und schoben ihn die restlichen zweihundert Meter zur kolba, nun durch dichtes, hohes Gras und vorbei an dornigen Büschen, schreckten dabei Frösche auf und wischten sich Stechmücken von den verschwitzten Gesichtern.

»Er hat doch Dienstboten«, sagte Mariam. »Warum schickt er die nicht?«

»Das ist seine Art von Buße«, antwortete Nana.

Die Geräusche des Karrens lockten Mariam und Nana ins Freie. Unvergessen für Mariam blieb, wie Nana an solchen Tagen der monatlichen Zuteilung aussah: eine groß gewachsene, hagere Frau, barfüßig wartend vor der Türschwelle, das lidlahme Auge spöttisch bis zu einem Schlitz verengt, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt und ihr kurz geschorenes krauses Haar unverhüllt im Sonnenlicht. Das übergroße Hemd war bis zum Hals zugeknöpft. In den Taschen steckten walnussgroße Steine.

Die Jungen hockten wartend am Ufer, während Mariam und Nana den Proviant in die kolba trugen. Sie wagten es nicht, näher als bis auf dreißig Schritt heranzukommen, obwohl sie wussten, dass Nana weder gut zielen noch weit werfen konnte. Wenn sie die Sachen schleppte, brüllte sie die Jungen an und bedachte sie mit Ausdrücken, die Mariam nicht verstand. Sie verfluchte deren Mütter und schnitt hasserfüllte Grimassen. Die Jungen antworteten auf ihre Beleidigungen nie.

Mariam hatte Mitleid mit ihren Halbbrüdern. Wie müde und erschöpft sie nach diesem langen, beschwerlichen Weg doch sein mussten, dachte sie und wünschte, sie dürfte ihnen zumindest einen Schluck Wasser anbieten. Aber sie sagte nie etwas, und wenn sie ihr zuwinkten, verzichtete sie darauf, zurückzuwinken. Um ihrer Mutter zu gefallen, brüllte sie Muhsin sogar einmal zu, dass sein Mund wie der Arsch einer Echse aussehe — und war danach voller Schuldgefühle, Scham und Angst, sie könnten Jalil davon berichten. Nana aber lachte so ausgelassen, dass ihre faulenden Schneidezähne sichtbar wurden und Mariam befürchte, sie könnte wieder einen ihrer Anfälle bekommen. Als sie sich beruhigt hatte, richtete sie ihren Blick auf Mariam und sagte: »Du bist eine gute Tochter.«

Wenn der Karren geleert war, zogen die Jungen wieder ab. Mariam schaute ihnen nach, bis sie im hohen Gras und den blühenden Kräutern verschwunden waren.

»Kommst du?«

»Ja, Nana.«

»Sie lachen über dich. Das tun sie. Ich hör’s.«

»Ich komme.«

»Glaubst du mir etwa nicht?«

»Ich bin da.«

»Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Mariam jo.«

Morgens weckte sie das ferne Blöken von Schafen und das helle Pfeifen einer Flöte, wenn die Schäfer von Gul Daman ihre Herde auf den Berghang führten. Mariam und Nana melkten ihre Ziegen, fütterten die Hühner und sammelten Eier ein. Gemeinsam backten sie Brot. Nana zeigte ihr, wie der Teig zu kneten, der tandoor zu befeuern und die Teigfladen auf die Innenseite der tönernen Ofenwand zu kleben waren. Nana brachte ihr auch bei, zu nähen, Reis zu kochen und all die verschiedenen Beilagen zuzubereiten: shalqam-Eintopf mit Rüben, Spinat-sabzi oder Blumenkohl mit Ingwer.

Nana machte kein Hehl daraus, dass sie nicht besucht werden wollte. Im Grunde war ihr niemand willkommen, ausgenommen einige wenige, so etwa das Oberhaupt von Gul Daman, der Dorf-arbab Habib Khan, ein bärtiger Mann mit kleinem Kopf und großem Bauch, der einmal im Monat kam, begleitet von einer Dienerin, die ein Hühnchen mitbrachte, manchmal einen Topf kichiri-Reis oder ein Körbchen voll gefärbter Eier für Mariam.

Dann war da eine kugelrunde Frau, die von Nana Bibi jo genannt wurde; ihr verstorbener Mann, ein Steinmetz, war ein Freund von Nanas Vater gewesen. Bibi jo kam immer in Begleitung einer ihrer sechs Schwiegertöchter und eines oder zweier Enkelkindern. Sie humpelte und keuchte über die Lichtung und nahm dann mit großem Getue und schmerzhaftem Seufzen auf dem von Nana zurechtgerückten Stuhl Platz. Auch Bibi jo brachte Mariam immer etwas mit, eine Schachtel dishlemeh-Bonbons oder einen Korb mit Quitten. Nana bekam zunächst Klagen über Bibis angegriffene Gesundheit zu hören, dann den neuesten Klatsch aus Herat und Gul Daman, in aller Ausführlichkeit genüsslich vorgetragen, während die Schwiegertochter ehrerbietig hinter ihr saß und schwieg.

Am meisten freute sich Mariam, abgesehen von Jalil, auf Mullah Faizullah, den akhund des Dorfes, den Koranlehrer. Er kam ein- oder zweimal in der Woche, um sie in den fünf täglichen namaz-Gebeten zu unterweisen und ihr den Koran näherzubringen; er hatte auch schon Nana unterrichtet, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Mullah Faizullah hatte Mariam zu lesen beigebracht und ihr geduldig über die Schulter geschaut, wenn ihre Lippen die Silben tonlos formulierten und der Zeigefinger unter jedem Wort verharrte, so fest aufs Papier gedrückt, dass das Nagelbett weiß wurde. Es schien, als versuchte sie, die Bedeutung aus den Zeichen herauszupressen. Mullah Faizullah war es gewesen, der ihr die Hand gehalten und den Stift geführt hatte, bei der Aufwärtsbewegung eines jeden alef, der Kurve eines jeden beh und den drei Punkten eines jeden seh.