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»Manchmal«, sagte Mami mit heiserer Stimme, »lausche ich dem Ticken der Uhr im Flur. Dann denke ich an all die Sekunden und Minuten, an die Stunden, Tage, Wochen und Monate, die ich noch zu leben habe. Ohne meine Söhne. Und es ist, als träte mir jemand aufs Herz, so dass ich keine Luft mehr bekomme. Ich fühle mich dann so schwach, dass ich am liebsten sterben würde.«

»Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun«, sagte Laila. Es war ihr ernst, doch ihre Worte klangen so beiläufig wie das Beileidsbekunden eines freundlichen Fremden.

»Du bist eine gute Tochter«, erwiderte Mami seufzend. »Leider bin ich dir keine gute Mutter.«

»Sag so etwas nicht.«

»Aber es ist wahr. Ich weiß es, und es tut mir leid, meine Liebe.«

»Mami?«

»Mm.«

Laila richtete sich auf und sah ihre Mutter an. In ihrem Haar zeigten sich inzwischen graue Strähnen. Es erschreckte Laila, dass ihre Mutter, die immer drall und rundlich gewesen war, so viel an Gewicht verloren hatte. Ihre Wangen waren eingefallen, die Bluse, die sie trug, warf über den knochigen Schultern Falten, und zwischen Hals und Schlüsselbeinen klafften tiefe Kuhlen. Der Ehering drohte ihr vom Finger zu rutschen.

»Ich möchte dich etwas fragen.«

»Was denn?«

»Du würdest doch nicht…« Laila stockte.

Sie hatte mit Hasina darüber gesprochen und auf ihren Vorschlag hin das Aspirinfläschchen über dem Ausguss entleert sowie sämtliche Küchenmesser und den Kebabspieß unter der Couch versteckt. Hasina hatte im Hof ein Seil entdeckt und verschwinden lassen. Als Babi seine Rasierklingen nicht finden konnte, war Laila gezwungen, ihm ihre Ängste anzuvertrauen. Sie hatte gehofft, dass er sie beruhigen würde, doch er hockte nur mit hängenden Schultern auf dem Rand der Couch, stopfte seine Hände zwischen die Knie und starrte mit leerem Blick vor sich hin.

»Du würdest doch nicht…, Mami, ich mache mir Sorgen, dass…«

»Daran habe ich tatsächlich gedacht, als die Nachricht kam«, erklärte Mami. »Ich will dich nicht anlügen. Der Gedanke geht mir immer noch durch den Kopf. Aber nein. Du brauchst keine Angst zu haben, Laila. Ich will den Tag erleben, an dem sich der Traum meiner Söhne verwirklicht. Ich möchte miterleben, wie die Sowjets schmachvoll abziehen und die Mudschaheddin als Sieger in Kabul einmarschieren. Ich möchte dabei sein, wenn das geschieht, damit meine Söhne durch mich, mit meinen Augen sehen, dass Afghanistan endlich befreit ist.«

Kurz darauf war Mami eingeschlafen. Laila blieb mit gemischten Gefühlen neben ihr liegen. Obwohl beruhigt darüber, dass Mami am Leben bleiben wollte, schmerzte es sie, dass nicht sie der Grund dafür war. Sie würde im Herzen ihrer Mutter keinen solchen Eindruck hinterlassen wie ihre Brüder, denn Mamis Herz war wie ein fahler Sandstrand, auf dem Lailas Spuren von den Wellen des Kummers, die darüber hinwegbrandeten, immer wieder weggespült werden würden.

21

Der Fahrer lenkte sein Taxi an den Straßenrand, um einen weiteren Konvoi sowjetischer Jeeps und Panzerfahrzeuge vorbeizulassen. Tarik beugte sich nach vorn und rief:

»Pajalusta! Pajalusta!«

Ein Jeep hupte; Tarik antwortete mit schrillem Pfeifton. Er strahlte übers ganze Gesicht und winkte den Soldaten zu. »Was für Geschütze!«, rief er. »Diese Jeeps, super. Eine fantastische Armee. Zu dumm nur, dass ihr gegen einen Haufen Bauern mit Steinschleudern den Kürzeren ziehen werdet.«

Der Konvoi zog vorbei. Der Chauffeur nahm die Fahrt wieder auf.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Laila.

»Eine Stunde, höchstens«, antwortete der Taxifahrer. »Vorausgesetzt, wir werden nicht ständig aufgehalten.«

Laila, Babi und Tarik unternahmen einen Tagesausflug. Hasina hatte auch mitkommen wollen, was ihr aber von ihrem Vater verboten worden war. Die Idee zu dem Ausflug war Babis gewesen, und obwohl er es sich eigentlich kaum leisten konnte, hatte er den Chauffeur für einen ganzen Tag angeheuert. Wohin es gehen sollte, wollte er Laila nicht verraten; er hatte lediglich angedeutet, dass das Ziel ihrer Allgemeinbildung zugute komme.

Sie waren schon seit fünf Uhr in der Früh unterwegs. Schneebedeckte Berge, Wüsten, Schluchten und unter der Sonne glühende Felsmassive wechselten einander ab. Sie kamen an strohgedeckten Lehmhütten vorbei, an Feldern voller Getreidegarben. Auf staubigem Gelände entdeckte Laila hier und da die schwarzen Zelte der Koochi-Nomaden, häufiger noch ausgebrannte Wracks sowjetischer Panzer und abgeschossener Hubschrauber. Das also, dachte sie, war das Afghanistan ihrer Brüder. Hier, in diesen Provinzen, wurden die Schlachten ausgetragen. Nicht in Kabul. In Kabul blieb es meist friedlich, und wären dort nicht gelegentlich Maschinengewehrsalven zu hören und sowjetische Soldaten zu sehen, die rauchend über die Gehwege schlenderten oder in ihren Jeeps über die Straßen rollten, hätte man den Krieg für ein Gerücht halten können.

Am späten Vormittag erreichten sie, nachdem sie zwei weitere Kontrollpunkte hatten passieren müssen, ein Flusstal, wo Babi seine Tochter auf Ruinen in der Ferne aufmerksam machte, die aus uralter Zeit zu stammen schienen und rötlich unter der Sonne schimmerten.

»Das ist Shahr-e-Zohak. Die rote Stadt. Sie war einmal eine Festung und wurde vor rund neunhundert Jahren errichtet, um das Tal vor Eindringlingen zu schützen. Der Enkel von Dschingis Khan hatte sie im 13. Jahrhundert einzunehmen versucht, wurde aber abgewehrt und getötet. Es war schließlich Dschingis Khan selbst, der sie zerstörte.«

»Tja, meine jungen Freunde, das ist das Schicksal unseres Landes«, sagte der Chauffeur und schnippte eine Zigarettenkippe aus dem Fenster. »Ein Eroberungsfeldzug nach dem anderen. Mazedonier, Sassaniden, Araber, Mongolen. Und jetzt die Russen. Aber wir sind wie die Festungsmauern da drüben. Ramponiert und kein schöner Anblick, aber immer noch stehend. Hab ich nicht recht, badar

»So ist es«, antwortete Babi.

Eine halbe Stunde später hielt der Fahrer an.

»Kommt«, sagte Babi. »Kommt und seht euch das an.«

Sie stiegen aus dem Auto. Babi streckte den Arm aus. »Da sind sie. Schaut.«

Tarik schnappte unwillkürlich nach Luft. So auch Laila. Ihr war auf Anhieb klar, dass sie vor einem Wunderwerk standen, das auf der ganzen Welt seinesgleichen suchte.

Die beiden Buddhas waren riesig und wirkten noch viel kolossaler als auf den Fotos, die sie von ihnen gesehen hatte. Eingemeißelt in den von der Sonne gebleichten Fels, blickten sie auf die kleine Gruppe herab wie schon vor fast zweitausend Jahren, als, wie es sich Laila vorzustellen versuchte, durch dieses Tal der Seidenstraße Handelskarawanen gezogen waren. Zahllose Höhlen markierten die überhängenden Steilwände zu beiden Seiten.

»Daneben kommt man sich ja winzig klein vor«, sagte Tarik.

»Wie wär’s? Steigen wir rauf?«, schlug Babi vor.

»Auf die Statuen?«, fragte Laila. »Ist das denn möglich?«

Babi lächelte und streckte seine Hand aus. »Auf geht’s.«

Tarik musste sich von Laila und Babi helfen lassen, als sie im Halbdunkel durch einen engen gewundenen Treppenschacht nach oben stiegen. Immer wieder kamen sie an Höhlen und Nischen vorbei, die wie Bienenwaben den Fels durchsetzten.

»Passt gut auf«, sagte Babi. Seine Stimme hallte von den Wänden wider. »Die Stufen sind tückisch.«

An manchen Stellen öffnete sich der Schacht und gab einen Blick auf die Buddhas frei.

»Nicht nach unten blicken, Kinder. Die Augen immer geradeaus.«

Babi erzählte, dass Bamiyan einst ein blühendes buddhistisches Zentrum gewesen sei, bevor es im 9. Jahrhundert unter die Herrschaft islamischer Araber geriet. Buddhistische Mönche hatten Höhlen in den Sandstein gegraben, die ihnen selbst als Wohnung oder durchreisenden Pilgern als Zuflucht dienten. Früher, erklärte Babi, seien die Wände und Gewölbe mit prächtigen Fresken ausgemalt gewesen.