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Laila verschlug es die Sprache.

»Du hättest mir übrigens ruhig etwas sagen können. Dass du einen BH brauchst. Davon wusste ich nichts. Es enttäuscht mich, dass du dich mir nicht anvertraut hast.« Jetzt, da sie ihre Tochter in der Defensive wusste, kam sie auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen. »Nun, es geht nicht um mich oder den BH, sondern um dich und Tarik. Er ist ein Junge, verstehst du, und als solcher macht er sich um Anstandsfragen keine Gedanken. Die solltest du dir aber machen. Es steht nicht weniger als dein Ruf auf dem Spiel. Und der Ruf eines Mädchens, zumal eines so hübschen, wie du es bist, ist eine delikate Sache. Wie ein Beo in geschlossener Hand. Wenn du sie auch nur ein klein wenig öffnest, fliegt er davon.«

»Und wie war das bei dir, als du über die Mauer gestiegen bist, um dich mit Babi im Obstgarten zu treffen?«, fragte Laila, froh darüber, wie schnell sie sich von dem Überfall ihrer Mutter erholt hatte.

»Wir waren Cousin und Cousine. Und wir haben ja schließlich geheiratet. Hat dieser Junge um deine Hand angehalten?«

»Er ist ein Freund. Ein rafiq. Mehr ist da nicht zwischen uns«, entgegnete Laila, was allerdings nicht besonders überzeugend klang. »Er ist für mich wie ein Bruder«, fügte sie ungeschickterweise hinzu. Und noch bevor sich die Miene ihrer Mutter verfinsterte, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

»Das ist er nicht«, blaffte Mami. »Du wirst diesen einbeinigen Tischlersohn doch wohl nicht mit deinen Brüdern vergleichen wollen. An unsere beiden Jungen reicht keiner heran.«

»Ich habe ja auch nicht behauptet, dass er… So war es nicht gemeint.«

Mami seufzte und presste die Lippen aufeinander.

»Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, nun aber sehr viel ernster als vorher. »Was ich dir begreiflich zu machen versuche, ist, dass die Leute über dich reden werden, wenn du nicht vorsichtig bist.«

Laila wollte etwas entgegnen. Nicht, dass sie ihrer Mutter widersprochen hätte. Laila wusste, dass sie nicht länger so unbekümmert mit Tarik herumtollen konnte wie früher. Seit einiger Zeit war ihr selbst ein wenig merkwürdig zumute, wenn sie sich mit ihm in der Öffentlichkeit zeigte. Dann empfand sie eine Scheu, die ihr früher unbekannt gewesen war — und womöglich auch jetzt noch unbekannt wäre, hätte sich nicht eines grundlegend verändert: Sie hatte sich in Tarik verliebt. Hoffnungslos. Wenn er in ihrer Nähe war, kamen ihr unwillkürlich die skandalösesten Gedanken, und sie stellte sich vor, seinen schlanken nackten Körper zu umschlingen und zu küssen. Wenn sie nachts in ihrem Bett lag, malte sie sich aus, wie es sein mochte, seine Hände und weichen Lippen im Nacken, auf der Brust, am Rücken und noch tiefer zu spüren. Wenn sie auf diese Weise an ihn dachte, kam sie sich verdorben und schuldig vor; und dann war da noch ein sonderbares, warmes Gefühl, das vom Bauch ausging und ausstrahlte, bis sie den Eindruck hatte, als glühte ihr Gesicht.

Nein. Mamis Bedenken waren wahrhaftig nicht von der Hand zu weisen. Manche Nachbarn, wenn nicht alle, hatten sich wahrscheinlich längst ihr Bild gemacht. Nicht selten waren den beiden verstohlene Blicke zugeworfen worden, und Laila ahnte, dass über sie und Tarik getuschelt wurde. Erst kürzlich war ihnen Raschid, der Schuhmacher, mit seiner verhüllten Frau Mariam im Schlepp auf der Straße begegnet. Im Vorübergehen hatte er grinsend gesagt: »Wen haben wir denn da? Leila und Madschnun!«, womit er auf das Liebespaar in Nizamis Gedicht aus dem 12. Jahrhundert anspielte — eine Farsi-Version von Romeo und Julia, wie ihr Babi später erklärte; allerdings habe Nizami seine Geschichte der unglücklichen Liebe bereits vierhundert Jahre vor Shakespeare verfasst.

Mami hatte durchaus recht.

Was Laila wurmte, war, dass Mami nicht verdiente, recht zu behalten. Auf Babis Meinung hätte sie mehr Wert gelegt. Aber Mami? Nach all den Jahren, in denen sie sich abgesondert und kaum einen Gedanken an ihre Tochter verschwendet hatte… Das war unfair. Laila kam sich vor wie eins dieser Küchenutensilien, die man je nach Laune vernachlässigen oder in Beschlag nehmen konnte.

Dennoch, dies war ein großer und für alle wichtiger Tag. Es wäre kleinlich, Anstoß zu nehmen und die Stimmung zu verderben.

»Ich habe verstanden.«

»Gut«, sagte Mami. »Das wäre also geklärt. Wo ist eigentlich Hakim? Ja, wo treibt sich mein lieber kleiner Gatte herum?«

Der Himmel war strahlend blau, das Wetter perfekt für eine Party. Die Männer saßen auf wackligen Klappstühlen im Hof. Sie tranken Tee, rauchten und diskutierten eifrig über die Pläne der Mudschaheddin. Babi hatte Laila schon einiges darüber mitgeteilt: Afghanistan nannte sich jetzt Islamischer Staat von Afghanistan. Ein von den verschiedenen Fraktionen der Mudschaheddin in Peschawar gebildeter Rat, der Islamische Dschihad-Rat, hatte unter Leitung von Sibghatullah Mujaddidi die politischen Geschäfte übernommen. Er sollte nach zwei Monaten abgelöst werden von einem Führungsrat unter Rabbani, dessen Amtszeit auf vier Monate begrenzt war. Im Laufe dieser sechs Monate sollte eine Loya Dschirga einberufen werden, eine große Versammlung der Anführer und Ältesten des Landes, mit dem Ziel, eine auf zwei Jahre begrenzte Übergangsregierung zu bilden, die unter anderem die Aufgabe hatte, demokratische Wahlen vorzubereiten.

Einer der Männer drehte Lammspieße über der zischenden Glut eines provisorischen Grills. Babi und Tariks Vater spielten im Schatten des alten Birnbaums eine Partie Schach, die Gesichter vor Konzentration zerknittert. Tarik sah ihnen dabei zu und lauschte mit einem Ohr der Diskussion am Tisch nebenan.

Die Frauen hielten sich im Wohnzimmer, im Flur und in der Küche auf. Manche hatten einen Säugling auf dem Arm und wichen geschickt den Kindern aus, die einander durchs Haus zerrten. Aus den Lautsprechern des Kassettenrekorders plärrte eine Gasele von Ustad Sarahang.

Laila stand in der Küche und füllte, von Giti unterstützt, dogh in Karaffen. Giti war längst nicht mehr so schüchtern oder ernst wie früher. Sie lachte jetzt gern und manchmal ein bisschen kokett, wie Laila zu ihrer Verwunderung bemerkte. Anstelle eines Pferdeschwanzes trug sie ihr Haar nunmehr offen und färbte rötliche Strähnchen hinein. Nach hartnäckiger Nachfrage erfuhr Laila, dass der Anstoß zu dieser Verwandlung von einem achtzehnjährigen jungen Mann ausging, den Giti auf sich aufmerksam gemacht hatte. Er hieß Sabir und war Torwart in der Fußballmannschaft, der auch ihr älterer Bruder angehörte.

»Er hat ein wahnsinnig süßes Lächeln und enorm dichtes schwarzes Haar«, hatte Giti ihrer Freundin anvertraut. Von dem Flirt wusste natürlich niemand. Giti war erst zweimal heimlich mit ihm verabredet gewesen, und das nur für jeweils eine Viertelstunde in einem kleinen Teehaus in Taimani am anderen Ende der Stadt.

»Er wird um meine Hand anhalten, Laila. Vielleicht schon im Sommer. Kaum zu glauben, oder? Ehrlich, er geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.«

»Und was ist mit der Schule?« Auf Lailas Frage hatte Giti nur die Augen verdreht.

Von Hasina war früher des Öfteren zu hören gewesen: »Wenn wir, Giti und ich, zwanzig sind, hat jede von uns schon vier oder fünf Kinder geworfen. Und auf dich, Laila, werden wir zwei Strohköpfe einmal richtig stolz sein. Aus dir wird noch was. Ich bin mir sicher, irgendwann sehe ich eine Zeitung mit deinem Foto auf der Titelseite.«

Mit verträumtem, in sich gekehrtem Blick schnitt Giti Gurken klein.

Mami, die ihr duftiges Sommerkleid trug, pellte zusammen mit der Hebamme Wajma und Tariks Mutter gekochte Eier.

»Ich werde Kommandeur Massoud ein Foto von Ahmad und Noor zukommen lassen«, sagte sie zu Wajma. Wajma nickte und versuchte, ernsthaftes Interesse vorzutäuschen.

»Er hat persönlich für ihre Beisetzung gesorgt und an ihrem Grab ein Gebet gesprochen. Dafür möchte ich mich bedanken.« Mami schlug ein weiteres gekochtes Ei an. »Er soll ja, wie man hört, ein sehr nachdenklicher und ehrenwerter Mann sein. Ich glaube, er wird meine Geste zu schätzen wissen.«