Aber auch solche Momente würden vergehen. Zurück blieben allenfalls Mattigkeit und ein vages Gefühl von Nervosität.
Sie glaubte, dass er gesagt hatte: Tu ich dir weh? Ja. So war es. Laila war froh, dass sie sich erinnerte.
Plötzlich rief Babi nach ihr und forderte sie auf, schnell nach oben zu kommen.
»Sie ist einverstanden!«, sagte er, und seine Stimme zitterte vor Erregung. »Wir wandern aus, Laila. Alle drei. Wir verlassen Kabul.«
Zu dritt saßen sie in Mamis Zimmer auf dem Bett. Draußen flogen Raketen durch den Himmel; die Kämpfe zwischen Hekmatyars und Massouds Truppen nahmen kein Ende. Laila ahnte, dass es irgendwo in der Stadt wieder Tote gab und schwarze Rauchwolken über zersprengten Häusern aufstiegen. Es lägen wieder Leichen auf den Straßen. Manche würden geborgen, andere nicht. Die Hunde in Kabul waren auf den Geschmack gekommen und würden sich an den Toten weiden.
Gleichzeitig drängte es Laila hinaus auf die Straßen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Es kostete sie Überwindung, still sitzen zu bleiben und nicht vor Freude zu kreischen. Babi sagte, dass sie zuerst nach Pakistan gehen würden, um dort Visa zu beantragen. Pakistan, wo auch Tarik noch sein musste! Er war erst vor siebzehn Tagen gefahren. Wenn sich Mami bloß eher entschieden hätte, wären sie womöglich gemeinsam aufgebrochen. Sie könnte jetzt bei ihm sein. Sei’s drum. In Peschawar angekommen, würde Laila nach Tarik und seinen Eltern suchen. Sie wären bestimmt noch dort, damit beschäftigt, ihre Ausreise zu organisieren. Und dann, wer weiß? Europa? Amerika? Vielleicht, wie Babi immer sagte, irgendwo am Meer…
Mami lehnte am Kopfteil des Bettes. Ihre Augen waren geschwollen. Sie zupfte sich an den Haaren.
Drei Tage zuvor war Laila, um frische Luft zu schnappen, nach draußen gegangen. Sie hatte neben der Außenpforte gestanden, als es plötzlich krachte und ein Geschoss an ihrem rechten Ohr vorbeiflog, aufprallte und Holzsplitter aufwirbeln ließ. Nach Gitis Tod, zahllosen Feuergefechten und Raketeneinschlägen war es dieses eine runde Loch in der Pforte unmittelbar neben der Stelle, wo Laila gestanden hatte, das Mami endlich wachgerüttelt und ihr vor Augen geführt hatte, wie sehr ihr einzig verbliebenes Kind von diesem Krieg bedroht war.
Von den Fotos an den Wänden lächelten Ahmad und Noor herab. Laila sah, wie die Augen ihrer Mutter schuldbewusst von einem Bild zum anderen sprangen. Es schien fast, als erflehte sie das Einverständnis ihrer toten Söhne. Deren Segen. Und Vergebung.
»Hier kann uns nichts mehr halten«, sagte Babi. »Unsere Söhne sind gefallen, aber wir haben immer noch Laila. Wir haben noch uns, Fariba. Fangen wir ein neues Leben an.«
Babi beugte sich zur Seite, um die Hand seiner Frau zu ergreifen. Mami ließ es zu. Sie gab ihm nach. Die beiden hielten sich bei der Hand. Dann rückte Babi näher und schloss sie in die Arme. Mami legte ihren Kopf auf seine Schulter und hielt sich an seinem Hemd fest.
In dieser Nacht war Laila zu aufgewühlt, um die Augen zu schließen. Sie lag im Bett und beobachtete am Horizont den gespenstischen Feuerschein explodierender Granaten. Doch trotz ihrer Erregung und des Grollens der Geschütze in der Ferne schlief sie irgendwann ein.
Und träumte.
Sie sitzen am Meeresstrand auf einer Steppdecke. Der Himmel ist verhangen, und es weht ein kühler Wind, doch neben Tarik und unter der Decke, die sie sich über die Schultern geworfen haben, fühlt sie sich wohlig warm. Sie sieht Autos hinter einem weiß gestrichenen Zaun parken; darüber erheben sich Palmen, die im Wind schaukeln. Der Wind lässt ihre Augen tränen, bläst Sand in die Schuhe und treibt Büschel abgestorbener Gräser von Düne zu Düne. In der Ferne ziehen Segelboote vorüber. Möwen schwirren schreiend durch die Luft. Dann glaubt sie, Musik zu hören, und erinnert sich an ein Lied, das ihr Babi vor Jahren beigebracht hat. Sie erzählt Tarik von diesem Lied, in dem von singendem Sand die Rede ist.
Er wischt sich Sandkörner von der Stirn. Sie sieht den Ring an seinem Finger. Sie selbst trägt das Gegenstück; es ist aus Gold und ringsum ziseliert.
»Tatsächlich«, sagt sie. »Was da klingt, ist die Reibung der Sandkörnchen aneinander. Hör mal.« Er lauscht. Er zieht die Stirn kraus. Sie warten. Sie hören es wieder. Bei leichtem Wind ist es ein Seufzen, das, wenn der Wind zunimmt, zu einem Heulen und schrillen Chorus anschwillt.
Babi sagte, dass nur mitgenommen werden solle, was absolut notwendig sei. Alles andere müsse verkauft werden.
»Von dem Erlös könnten wir in Peschawar leben, bis ich Arbeit gefunden habe.«
Während der nächsten zwei Tage trugen sie zusammen, was entbehrt werden konnte und für den Verkauf bestimmt war.
In ihrem Zimmer sortierte Laila alte Kleidungsstücke, Schuhe, Bücher und Spielzeug aus. Unter ihrem Bett fand sie die kleine gelbe Glaskuh, die sie in der fünften Klasse von Hasina bekommen hatte. Außerdem waren da ein kleiner Fußball als Schlüsselanhänger, ein Geschenk von Giti; ein kleines hölzernes Zebra auf Rädern; ein aus Ton gebrannter Astronaut, den sie und Tarik im Straßengraben gefunden hatten. Sie war damals sechs und er acht Jahre alt gewesen. Es hatte Streit darüber gegeben, wer von ihnen der eigentliche Finder war.
Auch Mami machte sich an die Arbeit. Doch ihre Bewegungen waren träge und zögerlich, ihre Augen glanzlos und der Blick nach innen gekehrt. Sie packte ihr gutes Geschirr zusammen, ihre Servietten, den gesamten Schmuck bis auf den Ehering und einen Großteil ihrer alten Kleider.
»Das willst du doch nicht etwa verkaufen, oder?«, sagte Laila und hob Mamis Hochzeitskleid in die Höhe. Es fiel ihr in Kaskaden auf den Schoß. Sie berührte die Spitze und Schleife am Halsausschnitt, die mit der Hand aufgestickten Perlen an den Ärmeln.
Achselzuckend nahm Mami ihr das Kleid ab und schleuderte es brüsk zu den anderen ausrangierten Sachen. Als würde sie sich mit einem Ruck von einem Verband befreien, dachte Laila.
Babi hatte die schmerzlichste Aufgabe zu erledigen.
Laila fand ihn in seinem Arbeitszimmer. Mit wehmütigem Blick betrachtete er seine Bücher in den Regalen. Er trug ein T-Shirt aus zweiter Hand; darauf abgebildet war die rote Hängebrücke von San Francisco, eingetaucht in dichten Nebel, der aus weiß schäumendem Wasser in der Tiefe aufstieg.
»Du kennst die Frage«, sagte er. »Welche Bücher soll man auf eine einsame Insel mitnehmen, wenn man sich nur fünf auswählen darf? Dass auch ich einmal vor diesem Problem stehen würde, hätte ich mir nicht träumen lassen.«
»Du wirst mit einer neuen Sammlung anfangen, Babi.«
»Mm.« Er lächelte traurig. »Ich kann kaum glauben, Kabul hinter mir zurückzulassen. Ich bin hier zur Schule gegangen, war selbst Lehrer in dieser Stadt und bin hier Vater geworden. Es ist eine seltsame Vorstellung, demnächst unter dem Himmel einer anderen Stadt zu schlafen.«
»Auch für mich.«
»Mir gehen schon den ganzen Tag zwei Zeilen aus einem Gedicht über Kabul durch den Kopf. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert und wurde von Saib-e-Tabrizi geschrieben. Ich konnte einmal das ganze Gedicht auswendig aufsagen, kann mich jetzt aber nur noch an diese beiden Zeilen erinnern:
Nicht zu zählen sind die Monde, die auf ihren Dächern schimmern,
noch die tausend strahlenden Sonnen, die verborgen hinter Mauern stecken.«
Laila blickte auf und sah ihn weinen. Sie legte ihren Arm um seine Taille. »Oh, Babi. Irgendwann kehren wir zurück. Wenn dieser Krieg vorbei ist. Dann sind wir wieder hier, inschallah. Du wirst sehen.«
Am dritten Tag schaffte Laila alles, was abgegeben werden sollte, in den Hof. Mit einem Taxi wollten sie die Sachen in ein Pfandhaus bringen.
Laila schleppte Karton um Karton, gefüllt mit Kleidern, Geschirr und Babis Büchern, nach draußen. Gegen Mittag, als sich der Hausrat vor der Eingangstür schulterhoch stapelte, hätte sie eigentlich erschöpft sein müssen; tatsächlich aber wurde sie von Minute zu Minute lebendiger. Beflügelt von der Aussicht, Tarik bald wiederzusehen, wuchs sie über sich hinaus.