Die drei »Männer« waren im Grunde noch junge Burschen mit sonnengebräunten knabenhaften Gesichtern. Mariam sah sie manchmal, wenn sie an dem Haus vorbeikam. Sie trugen immer Kampfanzüge, hockten vor der Eingangstür, spielten Karten und rauchten. Ihre Kalaschnikows lehnten an der Wand. Ihr Anführer war ein stämmiger Kerl mit selbstgefälliger, grimmiger Miene. Der jüngste von ihnen machte einen zurückhaltenden Eindruck und schien das Draufgängertum seiner Freunde mit gemischten Gefühlen zu betrachten. Er lächelte und grüßte mit einem Kopfnicken, wenn Mariam vorüberging. Dann zeigte sich ihr unter seiner rauen Oberfläche ein menschliches Gesicht, das noch unverdorben war.
Eines Morgens schlugen Raketen in das Haus ein, abgefeuert, wie es hieß, von den Hazaras der Wahdat-Fraktion. Noch Tage später fand man Glieder und Körperteile der Jungen.
»Sie haben’s nicht anders verdient«, sagte Raschid.
Das Mädchen habe außerordentlich großes Glück gehabt, fand Mariam. Dass es mit nur leichten Verletzungen davongekommen war, während die Rakete das Elternhaus in Schutt und Asche verwandelt hatte, kam wahrhaftig einem Wunder gleich. Allmählich erholte es sich. Es aß jetzt besser, bürstete sich die Haare und wusch sich wieder selbst. Seine Mahlzeiten nahm es bald unten mit Mariam und Raschid ein.
Doch dann flackerten immer wieder ungebetene Erinnerungen auf; es verstummte oder wurde reizbar. Es zog sich zurück. Zusammenbrüche. Leere Blicke. Albträume und plötzliche Anfälle abgrundtiefer Trauer, die bis zum Erbrechen führten.
Manchmal überkam sie Reue.
»Ich dürfte gar nicht hier sein«, sagte sie eines Tages.
Mariam wechselte die Laken. Das Mädchen hockte mit angezogenen Knien auf dem Boden und schaute ihr dabei zu.
»Mein Vater wollte die Kartons mit den Büchern nach draußen bringen. Er sagte, sie seien zu schwer für mich. Aber ich habe mich nicht davon abbringen lassen. Ich wollte es unbedingt selbst tun, hätte aber eigentlich im Haus sein sollen, als es passierte.«
Mariam schlug das frische Laken aus und ließ es aufs Bett fallen. Sie betrachtete das Mädchen, seine blonden Locken, den schlanken Hals und die grünen Augen, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Mariam erinnerte sich, sie auf der Straße gesehen zu haben, schon vor Jahren, als sie noch ein Kind war, mit der Mutter auf dem Weg zum tandoor, auf den Schultern ihres älteren Bruders und begleitet von dem jüngeren, von dem Mariam noch wusste, dass er ein Haarbüschel am Ohr gehabt hatte. Und mit dem Tischlersohn hatte sie immer Murmeln gespielt.
Das Mädchen blickte sie an, als hoffte es darauf, irgendein kluges oder aufmunterndes Wort aus Mariams Mund zu hören. Aber was hätte sie ihm zum Trost oder zur Aufmunterung sagen können? Mariam dachte zurück an den Tag, an dem Nana beigesetzt worden war; die von Mullah Faizullah zitierten Koranworte hatten sie kaum trösten können. Segensreich ist Der, in Dessen Hand die Herrschaft ruht, Der über alle Dinge Macht hat, Der Tod und Leben geschaffen hat, damit Er dich prüfe. Und zu ihren Selbstvorwürfen hatte er gesagt: »Solche Gedanken führen zu nichts, Mariam jo. Hörst du? Sie quälen dich nur. Es war nicht deine Schuld. Es war nicht deine Schuld.«
Mit welchen Worten hätte sie nun das Mädchen entlasten können?
Doch bevor sie etwas sagen konnte, verzog sich das Gesicht des Mädchens. Es kauerte plötzlich auf allen vieren und sagte, dass sich ihm der Magen umdrehe.
»Warte! Augenblick. Ich hole einen Eimer. Nicht auf den Boden. Ich habe gerade sauber gemacht… Oh, oh. Khodaya. Gott.«
Ungefähr einen Monat nach dem Raketeneinschlag, der die Eltern des Mädchens getötet hatte, klopfte ein Mann an die Tür. Mariam machte ihm auf. Er erklärte ihr sein Anliegen.
»Hier ist jemand, der dich sprechen möchte«, sagte Mariam.
Das Mädchen hob den Kopf vom Kissen.
»Sein Name ist Abdul Sharif.«
»Ich kenne keinen Abdul Sharif.«
»Nun, er fragt nach dir. Du solltest nach unten kommen und mit ihm reden.«
28
Laila saß einem dünnen Mann mit kleinem Kopf und klobiger Nase gegenüber. Sein Gesicht war von Narben zerklüftet. Die kurzen braunen Haare standen ihm vom Kopf ab wie Nadeln auf einem Nadelkissen.
»Ich bitte um Verzeihung, hamshira«, sagte Abdul Sharif. Er richtete seinen losen Kragen und betupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn. »Es ist so, dass ich immer noch nicht voll auf der Höhe bin. Noch fünf Tage muss ich diese Tabletten nehmen, diese –wie heißen sie gleich? — Sulfonamide.«
Laila drehte den Kopf ein wenig und wandte ihm das rechte Ohr zu, mit dem sie besser hören konnte. »Waren Sie ein Freund meiner Eltern?«
»Nein, nein«, beeilte sich Abdul Sharif zu sagen. »Verzeih mir.« Er hob einen Finger und nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, das Mariam vor ihm auf den Tisch gestellt hatte.
»Tja, wo soll ich anfangen? Das Beste wäre, ich hole ein wenig aus.« Er wischte sich die Lippen und betupfte sich wieder die Stirn. »Ich bin Geschäftsmann und besitze mehrere Geschäfte für Bekleidung, hauptsächlich Herrenbekleidung. Chapans, Hüte, tumbans, Anzüge, Krawatten, was auch immer. Zwei Geschäfte hier in Kabul, eins in Taimani, das andere in Shar-e-Nau. Von denen habe ich mich allerdings gerade getrennt. Geblieben sind nur die beiden Filialen in Pakistan, in Peschawar. Da befindet sich auch mein Warenlager. Ich bin also viel unterwegs. Und das ist in diesen Tagen…« — er schüttelte den Kopf und lächelte müde —, »sagen wir: ziemlich abenteuerlich.
Vor kurzem noch war ich in Peschawar, um Aufträge entgegenzunehmen und das Inventar durchzugehen. Das Übliche. Natürlich auch, um meine Familie zu besuchen. Wir haben drei Töchter, alhamdulellah. Ich habe sie und meine Frau nach Peschawar gebracht, als die Mudschaheddin damit anfingen, sich gegenseitig zu bekriegen. Ich will nicht, dass eine meiner Lieben auf der shaheed-Liste erscheint. Davor hüte ich mich auch selbst. Bald werde ich wieder bei ihnen sein, inschallah.
Wie dem auch sei, eigentlich hätte ich schon Mittwoch vorletzter Woche in Kabul sein sollen, aber wie es der Zufall wollte, wurde ich krank. Ich will dir die Einzelheiten ersparen, hamshira. Es reicht zu sagen, dass mir beim Wasserlassen war, als würde ich Glassplitter ausscheiden. So etwas wünsche ich nicht einmal diesem Hekmatyar. Meine Frau Nadia jan, Allah segne sie, drängte mich dazu, einen Arzt aufzusuchen, doch ich glaubte, die Sache mit Aspirin und viel Wasser selbst in den Griff bekommen zu können. Nadia jan bestand darauf, und ich weigerte mich. So ging es hin und her. Du kennst vielleicht das Sprichwort: Ein störrischer Esel braucht einen störrischen Treiber. In unserem Fall hat sich am Ende der Esel durchgesetzt. Und der bin ich.«
Er trank das restliche Wasser und reichte Mariam das Glas. »Wenn ich bitten dürfte, ohne allzu zahmat zu erscheinen.«
Mariam nahm das Glas entgegen, um es wieder aufzufüllen.
»Ich hätte natürlich auf sie hören sollen. Sie war immer schon die Vernünftigere von uns beiden, Gott schenke ihr ein langes Leben. Als ich schließlich im Krankenhaus war, hatte ich hohes Fieber und zitterte wie ein beid-Baum im Wind. Ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Die Ärztin bescheinigte mir eine akute Blutvergiftung und sagte, dass, wenn ich zwei oder drei Tage länger gewartet hätte, meine Frau jetzt Witwe wäre.
Ich wurde auf eine Station gebracht, wo, wie ich glaube, ausnahmslos Schwerkranke liegen. Oh, tashakor.« Er nahm das gefüllte Glas von Mariam entgegen und holte eine große weiße Pille aus der Jackentasche. »Schrecklich groß, diese Dinger.«