Abdul Sharif beugte sich vor und legte ihr eine Hand aufs Knie. »Ich bin dann trotzdem gekommen, ihm zuliebe. Er hätte es so gewollt. Das glaube ich. Es tut mir schrecklich leid. Ich wünschte…«
Laila hörte nicht mehr zu. Sie erinnerte sich an den Tag, als der Mann aus dem Pandschir-Tal mit der Nachricht vom Tod ihrer Brüder gekommen war. Sie dachte an Babi, in sich zusammengesunken und bleich im Gesicht, und an Mami, wie sie die Hand vor den Mund schlug, als sie das Schreckliche hörte. Zu sehen, wie es Mami an diesem Tag das Herz zerriss, hatte ihr Angst gemacht, doch Trauer zu empfinden war ihr kaum möglich gewesen. Sie hatte den Verlust nicht nachempfinden können. Jetzt war wieder ein Fremder mit einer Todesnachricht gekommen. Jetzt saß sie ihm gegenüber. Sollte dies etwa eine Strafe dafür sein, dass sie sich damals über den Kummer ihrer Mutter hinweggesetzt hatte?
Laila erinnerte sich, wie ihre Mutter schreiend zu Boden gesunken war und sich die Haare gerauft hatte. Aber nicht einmal dazu war Laila nun im Stande. Sie konnte sich nicht rühren, kaum einen Muskel bewegen.
Stattdessen saß sie reglos auf dem Stuhl, die schlaffen Hände im Schoß, die Augen ins Leere gerichtet und mit losgelöstem Verstand. Sie ließ die Gedanken schweifen, bis sie einen guten und sicheren Platz fanden, wo Gerstenfelder grünten, klare Bäche sprudelten und Myriaden fedriger Pappelsamen durch die Luft schwirrten; wo Babi, unter einer Akazie sitzend, aus einem Buch vorlas und Tarik, die Hände auf der Brust gefaltet, ein Nickerchen machte; wo sie, die Füße ins Wasser getaucht, unter der Wacht uralter Götter, der von der Sonne gebleichten Felsen, von schönen Dingen träumen konnte.
29
»Es tut mir leid«, sagte Raschid zu dem Mädchen, als er eine Schale mastawa mit Fleischklößen von seiner Frau entgegennahm, ohne diese anzusehen. »Ich weiß, ihr wart sehr eng… befreundet. Und immer zusammen, schon als Kinder. Eine schreckliche Sache, die da passiert ist. Auf diese Weise kommen leider allzu viele junge Afghanen um.«
Den Blick immer noch auf das Mädchen gerichtet, fuchtelte er mit der Hand und verlangte nach einer Serviette.
Seit Jahren schaute ihm Mariam beim Essen zu, sah, wie sich die Kaumuskeln an den Schläfen bewegten, wie er mit den Fingern den Reis zu kleinen Bällchen formte und sich mit dem Rücken der anderen Hand den Mund abwischte. Seit Jahren aß er, ohne aufzublicken, ohne ein Wort zu sprechen. Sein Schweigen kam ihr wie eine Bestrafung vor. Er brach es nur, um ihr Vorwürfe zu machen, um missbilligende Laute von sich zu geben oder um mit einem Wort mehr Brot oder Wasser zu verlangen.
Jetzt aß er mit einem Löffel. Er benutzte eine Serviette, sagte »lotfan«, wenn er Wasser wollte. Und redete. Unablässig und angeregt.
»Wenn du mich fragst, haben die Amerikaner auf den falschen Mann gesetzt, als sie Hekmatyar in den achtziger Jahren durch ihre CIA mit Waffen für den Kampf gegen die Sowjets beliefert haben. Die Sowjets sind verschwunden, aber er verfügt immer noch über diese Waffen, die er jetzt auf unschuldige Menschen wie deine Eltern richtet. Und das nennt er Dschihad. Was für eine Farce! Was hat der Dschihad mit der Ermordung von Frauen und Kindern zu tun?
Es wäre besser gewesen, die CIA hätte Kommandeur Massoud aufgerüstet.«
Unwillkürlich krauste Mariam die Stirn. Kommandeur Massoud? Ihr war noch allzu gut in Erinnerung, mit welch wütenden Worten Raschid Massoud als Verräter und Kommunisten beschimpft hatte. Zudem war Massoud ein Tadschike. Wie auch Laila.
»Ein wirklich vernünftiger Kerl ist das. Ein ehrenhafter Afghane. Ein Mann, der ein aufrichtiges Interesse an einer friedlichen Lösung hat.«
Raschid zuckte mit den Achseln und seufzte.
»Aber das kann den Amerikanern ja egal sein. Was kümmert’s die, dass sich Paschtunen und Hazaras, Tadschiken und Usbeken gegenseitig massakrieren? Wer von denen könnte sie überhaupt voneinander unterscheiden? Nein, von den Amerikanern ist keine Hilfe zu erwarten. Jetzt, da die Sowjetunion zerfällt, sind wir ihnen nicht mehr wichtig. Wir haben unseren Zweck erfüllt. Für sie ist Afghanistan ein kenarab, ein Scheißloch. Entschuldige meine Ausdrucksweise, aber so ist es nun einmal. Was meinst du, Laila jan?«
Das Mädchen murmelte etwas, das nicht zu verstehen war, und schob einen Fleischkloß in ihrer Schale umher.
Raschid nickte nachdenklich, als hätte sie etwas besonders Kluges von sich gegeben. Mariam schaute weg.
»Weißt du, dein Vater, Gott habe ihn selig, dein Vater und ich haben häufig solche Diskussionen geführt. Schon zu einer Zeit, als du noch gar nicht auf der Welt warst. Stundenlang haben wir über Politik geredet. Auch über Bücher. Stimmt’s, Mariam? Du erinnerst dich doch.«
Mariam nahm einen Schluck Wasser.
»Nun, ich hoffe, ich langweile dich nicht mit diesen politischen Geschichten.«
Später, als Mariam in der Küche war und das schmutzige Geschirr in Seifenwasser einweichen ließ, saß ihr der Groll wie ein Knoten im Magen.
Es waren nicht so sehr seine Lügen oder sein geheucheltes Mitgefühl, ja nicht einmal die Tatsache, dass er sie, die eigene Frau, wie eine Fremde behandelte, seit er das Mädchen aus den Trümmern gezogen hatte.
Es war vielmehr dieses Schauspiel, das er veranstaltete, sein durchsichtiges Bemühen, das Mädchen zu beeindrucken und ihm zu gefallen.
Und plötzlich wusste Mariam, dass ihr Argwohn berechtigt war. Die Einsicht traf sie mit voller Wucht: Was sie da miterlebte, war nicht weniger als Liebeswerben.
Sie fasste schließlich all ihren Mut zusammen und suchte ihn in seinem Zimmer auf.
Raschid steckte sich eine Zigarette an und fragte: »Warum nicht?«
Mariam wusste nun, dass sie geschlagen war. Sie hatte halb erwartet, halb gehofft, dass er alles abstreiten würde, sich überrascht gäbe, vielleicht sogar empört wäre über ihre Unterstellung. Dann hätte sie vielleicht die Oberhand behalten und ihn beschämen können. Doch sein gelassenes Eingeständnis und sein nüchterner Tonfall nahmen ihr alle Entschlossenheit.
»Setz dich«, sagte er. Er lag mit dem Rücken zur Wand auf seinem Bett, die robusten Beine ausgestreckt. »Setz dich, bevor du in Ohnmacht fällst und dir den Kopf aufschlägst.«
Mariam ließ sich auf den Klappstuhl fallen, der neben dem Bett stand.
»Würdest du mir den Aschenbecher geben?«, sagte er.
Sie gehorchte.
Raschid war inzwischen an die sechzig oder schon ein paar Jahre darüber — sein genaues Alter kannte nicht einmal er selbst. Sein Haar war grau geworden, aber immer noch dicht und borstig. Unter den Augen hatten sich Tränensäcke gebildet, die Haut im Nacken war runzlig und ledern geworden. Seine Wangen hingen schlaff herunter. Morgens stand er reichlich krumm auf den Beinen. Doch er hatte immer noch breite Schultern, einen massigen Rumpf, kräftige Hände und einen runden Bauch, der das Erste war, was man von ihm sah, wenn er zur Tür hereinkam.
Im Großen und Ganzen, fand Mariam, hatte er sich — im Gegensatz zu ihr — über die Jahre ganz passabel gehalten.
»Wir müssen die Angelegenheit ins Reine bringen«, sagte er und stellte den Aschenbecher auf seinen Bauch. Die Lippen spöttisch gekräuselt, fügte er hinzu: »Nicht, dass man sich am Ende über uns das Maul zerreißt. Dass eine junge, unverheiratete Frau bei uns wohnt, werden manche anstößig finden. Das schadet meinem Ruf. Und dem ihren. Nicht zuletzt auch deinem, wenn ich das hinzufügen darf.«
»In den achtzehn Jahren unserer Ehe habe ich dich nie um irgendeinen Gefallen gebeten«, sagte Mariam. »Jetzt tue ich es.«
Er inhalierte Rauch und ließ ihn langsam aus dem Mund entweichen. »Sie kann nicht ohne Weiteres hierbleiben, wenn es das ist, was du meinst. Ich werde sie nicht einfach nur durchfüttern, mit Kleidern versorgen und beherbergen. Ich bin schließlich nicht das Rote Kreuz, Mariam.«