»Aber…«
»Aber was? Was? Hältst du sie etwa für zu jung? Sie ist vierzehn und kein Kind mehr. Du warst fünfzehn, erinnerst du dich? Meine Mutter war vierzehn, als sie mich zur Welt brachte. Dreizehn, als sie heiratete.«
»Ich… ich will das nicht«, sagte Mariam, von Abscheu und Hilflosigkeit wie betäubt.
»Damit hast du nichts zu tun. Die Entscheidung liegt bei ihr und bei mir.«
»Ich bin zu alt.«
»Unsinn. Sie ist weder zu jung, noch bist du zu alt.«
»Doch. Ich bin zu alt, als dass du mir so etwas antun könntest«, erwiderte Mariam und zerknüllte mit zitternden Händen ihr Kleid. »Nach all den Jahren kannst du mich nicht zu einer ambagh machen.«
»Stell dich nicht an. So etwas ist ganz normal, und das weißt du. Ich habe Freunde mit zwei, drei oder vier Frauen. Dein eigener Vater hatte drei. Und überhaupt, was ich vorhabe, hätten andere Männer an meiner Stelle längst schon getan. Auch das weißt du.«
»Ich werde es nicht erlauben.«
Raschid lächelte matt. »Es gäbe eine andere Möglichkeit«, sagte er und scheuerte sich mit der schwieligen Ferse des einen Fußes die Sohle des anderen. »Sie kann verschwinden. Ich werde ihr nicht im Weg stehen. Allerdings käme sie wahrscheinlich nicht weit. Ohne Essen, ohne Wasser und ohne eine rupia in der Tasche, während ringsum Kugeln und Mörsergranaten durch die Luft fliegen. Was glaubst du, wie viele Tage es dauern würde, bis man sie schließlich entführt, vergewaltigt oder mit aufgeschlitzter Kehle in irgendeinen Straßengraben wirft?«
Er hustete und richtete das Kissen im Nacken.
»Die Welt da draußen kennt kein Pardon, Mariam, glaub mir. Bluthunde und Banditen an jeder Straßenecke. Sie hätte keine Chance, nicht die geringste. Aber angenommen, es geschähe ein Wunder und sie würde es bis nach Peschawar schaffen. Was dann? Hast du eine Vorstellung davon, wie es in den Lagern dort zugeht?«
Er blinzelte ihr durch eine Rauchwolke zu.
»Die Flüchtlinge hausen in Pappkartons. Tuberkulose, Ruhr, Hunger, Verbrechen sind an der Tagesordnung. Und das alles schon vor dem Winter. Dann kommt der Frost.
Lungenentzündung. Die Leute erstarren zu Eiszapfen. Diese Lager verwandeln sich in Friedhöfe.«
Er wackelte mit dem Kopf und grinste. »Natürlich hätte sie es warm in einem der Bordelle vor Ort. Das Geschäft läuft gut, wie man hört. Eine Schönheit wie sie würde ein kleines Vermögen einbringen, glaubst du nicht auch?«
Er stellte den Aschenbecher auf der Nachtkonsole ab und schwang seine Beine über den Bettrand.
»Hör zu«, sagte er im versöhnlichen Tonfall des Überlegenen. »Mir war klar, dass du Schwierigkeiten damit haben wirst. Verständlich, ich mache dir keinen Vorwurf. Aber so ist es das Beste. Wart’s ab. Denk noch einmal in diesem Sinne darüber nach, Mariam. Du hättest Hilfe im Haushalt, und sie wäre mit einem Mann und einem Dach über dem Kopf in Sicherheit. Gerade jetzt, so wie die Zeiten sind, braucht eine Frau einen Mann. Ist dir schon aufgefallen, wie viele Witwen in den Straßen schlafen? Für eine solche Chance, die ich dem Mädchen biete, würden sie Mord und Totschlag begehen. Im Grunde…, ja, im Grunde ist mein Angebot geradezu mildtätig.«
Er lächelte.
»Dafür verdiente ich wahrhaftig einen Orden.«
Später, im Dunkeln, berichtete Mariam dem Mädchen von ihrem Gespräch mit Raschid.
Lange Zeit sagte das Mädchen nichts.
»Er will bis morgen eine Antwort hören«, sagte Mariam.
»Die kann er sofort haben«, erwiderte das Mädchen.
»Meine Antwort ist Ja.«
30
Tags darauf blieb Laila den ganzen Tag über im Bett. Sie lag unter der Decke, als Raschid morgens den Kopf zur Tür hereinsteckte und sagte, dass er zum Friseur gehe. Sie war immer noch im Bett, als er am späten Nachmittag zurückkehrte und ihr seinen neuen Haarschnitt vorführte, einen neuen dunkelblauen Nadelstreifenanzug aus zweiter Hand und den Ehering, den er für sie gekauft hatte.
Er setzte sich zu ihr aufs Bett, löste langsam und mit großer Gebärde die Schleife der Verpackung, öffnete das Kästchen und zupfte mit spitzen Fingern den Ring daraus hervor. Er habe Mariams alten Ehering dafür eingetauscht, erklärte er.
»Das macht ihr nichts aus. Glaub mir. Sie wird es nicht einmal bemerken.«
Laila verkroch sich auf die andere Seite des Bettes. Sie konnte Mariam hören, die unten Wäsche bügelte.
»Sie hat ihn ohnehin nie getragen«, sagte Raschid.
»Ich will ihn nicht«, flüsterte Laila. »Nicht unter diesen Umständen. Sie sollten ihn zurückbringen.«
»Zurückbringen?« In seinem Blick flackerte Missmut auf, der aber sogleich wieder verschwand. Er lächelte. »Ich musste noch dazuzahlen, und das nicht zu knapp. Es ist ein sehr viel besserer Ring. Zweiundzwanzig Karat Gold. Fühl mal, wie schwer. Na los, nimm ihn in die Hand. Nein?« Er schloss das Kästchen. »Wie wär’s mit Blumen? Das würde dir doch gefallen, oder? Hast du irgendwelche Lieblingsblumen? Margeriten, Tulpen, Flieder? Keine Blumen? Gut. Ich kann auch nichts damit anfangen. Ich dachte nur… Nun, ich kenne da einen Schneider in Deh-Mazang. Da sollten wir morgen vielleicht mal hingehen und dir ein schönes Kleid anpassen lassen.«
Laila schüttelte den Kopf.
Raschid kniff die Brauen zusammen.
»Mir wär’s lieber…«, hob Laila an.
Er legte ihr eine Hand in den Nacken. Laila zuckte unwillkürlich zusammen und wimmerte. Seine Berührung fühlte sich an wie ein kratziger feuchter Wollpullover auf nackter Haut.
»Ja?«
»Mir wär’s lieber, wir brächten die Sache möglichst schnell hinter uns.«
Raschid riss den Mund auf. Dann grinste er und zeigte gelbe Zähne. »Du kannst es wohl kaum erwarten«, sagte er.
In den Tagen vor Abdul Sharifs Erscheinen war Laila fest entschlossen gewesen, nach Pakistan auszuwandern. Auch danach hätte sie den Mut noch aufgebracht wegzufahren, irgendwohin, möglichst weit weg von dieser Stadt, wo an jeder Straßenecke eine Falle zu befürchten war und in jeder Gasse ein Gespenst lauerte, das wie ein Springteufel über sie herzufallen drohte. Sie hätte die Risiken auf sich genommen.
Jetzt aber gab es diese Möglichkeit nicht mehr.
Nicht mit der täglichen Übelkeit, den schwellenden Brüsten und der Gewissheit, dass die Regel ausgesetzt hatte.
Laila sah sich im Geiste in einem Flüchtlingslager, auf steinigem Wüstengelände zwischen Tausenden von provisorischen Zelten aus Plastikplanen, an denen ein kalter Wind zerrte. Sie malte sich aus, in einem dieser Zelte ein Kind, Tariks Kind, zur Welt zu bringen, einen leblosen Wurm mit bläulich grauer Haut. Sie stellte sich vor, wie dieser winzige Körper von Fremden gewaschen und, mit einem gelbbraunen Tuch umhüllt, auf freiem Feld und unter kreisenden Geiern in ein ausgehobenes Loch gelegt würde.
Wie sollte es ihr jetzt noch möglich sein zu fliehen?
Mit düsterem Sinn machte Laila eine Bestandsaufnahme der Menschen in ihrem Leben: Ahmad und Noor, beide gefallen; Hasina, verschwunden; Giti, tot, so auch Mami und Babi. Jetzt Tarik…
Aus ihrem früheren Leben aber war etwas auf wundersame Weise zurückgeblieben, eine letzte Verbindung zu damals, zu einer Zeit, in der sie noch nicht so schrecklich einsam und allein gewesen war wie jetzt. Ein Teil von Tarik war noch am Leben, in ihr, wuchs heran und bildete kleine Arme aus und winzige durchscheinende Hände mit Fingerknospen. Wie könnte sie das Einzige, was ihr von ihm und ihrem früheren Leben geblieben war, durch eine Flucht gefährden?