Sie traf ihre Entscheidung schnell. Sechs Wochen waren seit jenem Nachmittag mit Tarik vergangen. Falls sie länger wartete, würde Raschid Verdacht schöpfen.
Sie wusste um die Fragwürdigkeit ihrer Absicht. Was sie zu tun beschlossen hatte, war ehrlos, unredlich und schändlich. Ganz und gar unfair gegenüber Mariam. Zwar war das Kind in ihr noch nicht viel größer als eine Maulbeere, doch ahnte Laila bereits, zu welchen Aufopferungen eine Mutter bereit sein musste. Die Preisgabe der Tugend war nur eines der ersten Opfer.
Sie legte eine Hand auf ihren Unterleib und schloss die Augen.
An die Zeremonie sollte sich Laila später nur vage und in Bruchstücken erinnern: an die cremefarbenen Streifen auf Raschids Anzug; den aufdringlichen Geruch seines Haarwassers; die kleine Rasiermesserwunde über dem Adamsapfel; die rauen Kuppen seiner vom Nikotin verfärbten Finger, als er ihr den Ring aufsteckte; an den nicht funktionierenden Stift; die Suche nach Ersatz; den Vertrag; die Unterschrift — seine mit fester Hand, während ihre zitterte; die Gebete; daran, dass er, wie ihr im Spiegel auffiel, seine Augenbrauen getrimmt hatte.
Und irgendwo im Raum stand Mariam, erniedrigt und voller Gram.
Laila brachte es nicht über sich, dem Blick der älteren Frau zu begegnen.
Von seinem kalten Bett aus sah sie ihn in dieser Nacht die Vorhänge zuziehen. Sie zitterte schon, ehe er ihr Hemd aufknöpfte und an der Kordel ihres Hosenbundes zog. Er war erregt und so fahrig, dass er Mühe hatte, das eigene Hemd aufzuknöpfen und den Gürtel zu lösen. Laila bekam seine schlaffen Brüste zu Gesicht, den hervortretenden Bauchnabel mit der kleinen dunkelblauen Ader in der Mitte, den Wust weißer Haare auf Brust, Schultern und Oberarmen. Seine Blicke lechzten nach ihr.
»Gott hilf mir, ich glaube, ich liebe dich«, sagte er.
Ihre Zähne klapperten, als sie ihn bat, das Licht zu löschen.
Später, als sie sicher sein konnte, dass er schlief, langte Laila nach dem Messer, das sie unter der Matratze versteckt hatte. Mit der Spitze stach sie sich in die Kuppe des Zeigefingers. Dann hob sie die Decke und ließ Blut auf die Stelle tropfen, an der er auf ihr gelegen hatte.
31
Tagsüber ließ sich das Mädchen kaum blicken. Mariam konnte es meist nur hören, am Knarren der Bettfedern und den tapsenden Schritten im Flur. Auf der Toilette rauschte Wasser, im Schlafzimmer klirrte ein Teelöffel an Glas. Mitunter erhaschte Mariam auch einen Blick von ihm, wenn es mit fliegendem Kleid und schlappenden Sandalen die Treppe hinaufhastete.
Es konnte jedoch auf die Dauer nicht ausbleiben, dass sich die beiden häufiger über den Weg liefen. Mariam begegnete ihr auf den Treppenstufen, im engen Flur, in der Küche oder an der Tür, wenn sie aus dem Hof ins Haus zurückkehrte. Dann machte sich jedes Mal eine unangenehme Spannung bemerkbar. Das Mädchen raffte den Rock, flüsterte ein oder zwei Worte der Entschuldigung und eilte errötend vorüber. Manchmal nahm Mariam wahr, dass Raschid bei ihr gewesen war. Sie konnte seinen Schweiß auf der Haut des Mädchens riechen, seinen Tabak, seine Gier. Das Kapitel ehelichen Verkehrs war für sie gnädigerweise abgeschlossen, schon lange. Allein der Gedanke an jene qualvollen Episoden, in denen Raschid auf ihr gelegen hatte, bereiteten ihr Übelkeit.
An den Abenden aber waren diese aufeinander abgestimmten Ausweichmanöver nicht möglich. Raschid sagte, sie seien eine Familie, und bestand darauf, dass sie gemeinsam zu Tisch saßen.
»Was soll das?«, fragte er und klaubte mit den Fingern Fleisch von einem Knochen — seine Scharaden mit Löffel und Gabel hatte er schon eine Woche nach der Hochzeit aufgegeben. »Habe ich etwa zwei Ölgötzen geheiratet? Los, Mariam, gap bezan, unterhalte dich mit ihr. Wo sind deine guten Manieren geblieben?«
Während er noch Mark aus dem Knochen lutschte, sagte er zu dem Mädchen: »Mach dir nichts daraus. Sie hat noch nie viel gesprochen. Was im Grunde ein Segen ist, denn, wallah, wenn jemand nicht viel zu sagen hat, ist es besser, er geizt mit Worten. Wir zwei, du und ich, sind Stadtmenschen, aber sie ist eine dehati, ein Mädchen vom Dorf. Ach was, nicht einmal das. Sie ist in einer kolba aus Lehm aufgewachsen, am Rande eines Dorfes. Ihr Vater hat sie dort ausgesetzt. Hast du ihr eigentlich schon gesagt, dass du eine harami bist, Mariam? Ja, das ist sie. Aber sie hat, wenn man’s bedenkt, durchaus auch ihre guten Seiten. Die werden dir auch noch auffallen, Laila jan. Sie ist zum Beispiel ziemlich strapazierfähig, eine gute Arbeiterin und ohne jeden Dünkel. Mal so gesagt: Wenn sie ein Auto wäre, wäre sie ein Wolga.«
Mit ihren dreiunddreißig Jahren war Mariam inzwischen eine alte Frau, doch als harami bezeichnet zu werden, verletzte sie nach wie vor. Sie kam sich dann vor wie eine Krankheit oder Ungeziefer und erinnerte sich an Nana, wie sie sie bei den Handgelenken gepackt gehalten hatte. »Du ungeschickter kleiner harami. Das ist wohl der Dank für das, was ich alles ertragen musste. Zerbrichst mir mein Erbe, du ungeschickter kleiner harami.«
»Du«, sagte Raschid zu dem Mädchen, »du dagegen wärst ein Benz. Ein brandneuer, blitzblanker Benz der A-Klasse. Wah, wah. Aber…« — er hob den fettigen Zeigefinger der rechten Hand —, »einen solchen Benz muss man mit Vorsicht behandeln. Schon allein aus Respekt vor seiner Schönheit und Technik, verstehst du? Oh, ihr müsst jetzt nicht denken, dass ich verrückt bin. Ich behaupte nicht, dass ihr Autos seid. Ich wollte nur was klarmachen.«
Für das, was er nun vorbringen wollte, legte Raschid das Reisbällchen, das er soeben mit den Fingern geformt hatte, auf dem Tellerrand ab, ließ die Hände über seinem Essen schweben und schaute nachdenklich vor sich hin.
»Über Tote soll man ja nicht schlecht reden, schon gar nicht über shaheed. Und ich meine es wirklich nicht böse, wenn ich sage, dass ich gewisse… Vorbehalte… habe, was deine Eltern angeht, Allah möge ihnen vergeben und einen Platz im Paradies gewähren.
Ich finde, sie waren dir gegenüber viel zu nachsichtig. Tut mir leid.«
Der kalte, hasserfüllte Blick, den das Mädchen Raschid entgegenschleuderte, entging Mariam nicht, im Gegensatz zu Raschid, der auf seinen Teller stierte.
»Wie dem auch sei. Ich bin jetzt dein Ehemann, und als solcher fällt mir die Aufgabe zu, nicht nur über deine, sondern vor allem über unsere Ehre zu wachen, ja, über unseren nang und namoos. Das ist die Pflicht eines Ehemanns. Und lass sie meine Sorge sein. Bitte. Du bist die Königin, die malika, und dieses Haus ist dein Schloss. Wenn du irgendetwas brauchst, bitte Mariam darum. Sie wird es richten. Nicht wahr, Mariam? Und wenn dir was gefällt, so werde ich es dir besorgen. Du wirst sehen, ich bin ein guter Ehemann.
Als Gegenleistung erwarte ich lediglich, dass du dieses Haus nicht verlässt, es sei denn in meiner Begleitung. Das ist alles. Mehr nicht. Falls du irgendetwas erledigen musst, wenn ich nicht da bin, ich meine, wenn es so dringend ist, dass du nicht auf mich warten kannst, dann schick Mariam, und sie wird tun, was du verlangst. Das mag dir vielleicht seltsam erscheinen: Sie darf das Haus verlassen, du aber nicht. Nun, einen Wolga fährt man auch nicht so wie einen Benz. Das wäre doch töricht, oder? Und noch etwas: Wenn wir zusammen ausgehen, möchte ich, dass du eine Burka trägst. Zu deinem eigenen Schutz, versteht sich. Es ist besser so. In der Stadt halten sich neuerdings viele Männer auf, die es in ihrer Lüsternheit nur darauf anlegen, verheiratete Frauen zu entehren. So. Das wär’s.«