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Er hustete.

»Wenn ich nicht zu Hause bin, macht Mariam stellvertretend für mich Augen und Ohren auf.« Er warf Mariam einen flüchtigen Blick zu, der so hart war wie ein Tritt mit eisenbeschlagener Schuhspitze. »Nicht, dass ich misstrauisch wäre. Im Gegenteil. Ich halte dich für sehr viel klüger, als man es von einer so jungen Frau erwarten kann. Aber du bist nun einmal eine junge Frau, Laila jo, eine dokhtar ejawan, und junge Frauen neigen dazu, übermütig zu werden. Wie dem auch sei, auf Mariam ist Verlass. Und falls es zu einem Fehltritt kommen sollte…«

Er redete und redete. Mariam beobachtete das Mädchen aus den Augenwinkeln, während Raschids Forderungen und Ansprüche über sie hereinbrachen wie die Raketen auf Kabul.

Am nächsten Tag war Mariam im Wohnzimmer damit beschäftigt, einige von Raschids Hemden zusammenzufalten, die sie kurz zuvor von der Wäscheleine im Hof abgenommen hatte. Als sie eines der Hemden zur Hand nahm und in der Luft ausschüttelte, sah sie plötzlich das Mädchen in der Tür stehen, die Hände um ein Teeglas gewölbt.

»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte das Mädchen. »Verzeihung.«

Mariam schaute sie nur an.

Sonnenlicht fiel dem Mädchen aufs Gesicht, auf die großen grünen Augen, die glatte Stirn, auf die hohen Wangenknochen und die kräftigen, wunderschön geschwungenen Augenbrauen, um die Mariam es am meisten beneidete. Sein helles, in der Mitte gescheiteltes Haar war an diesem Morgen ungekämmt.

Das Mädchen hatte die Schultern eingezogen, und an der Art, wie es das Glas hielt, glaubte Mariam erkennen zu können, dass es nervös war. Mariam hatte den Eindruck, dass es mit sich rang.

»Die Blätter werden braun«, sagte das Mädchen in geselligem Tonfall. »Schon gesehen? Der Herbst ist meine liebste Jahreszeit. Ich mag den Geruch, der entsteht, wenn die Leute das Laub in ihren Gärten verbrennen. Meine Mutter

liebte den Frühling am meisten. Kanntest du meine Mutter?«

»Nicht wirklich.«

Das Mädchen hielt die Hand hinters Ohr. »Wie bitte?«

Mariam sprach lauter. »Ich sagte, nein. Ich kannte deine Mutter kaum.«

»Oh.«

»Willst du irgendwas?«

»Mariam jan. Es ist wegen gestern Abend. Er hat da Dinge gesagt…«

»Darüber wollte ich auch mit dir sprechen«, fiel ihr Mariam ins Wort.

»Ja, bitte«, antwortete das Mädchen erwartungsvoll und trat einen Schritt vor. Es wirkte fast erleichtert.

Draußen trällerte eine Goldamsel. Jemand schob einen Karren. Mariam hörte die Deichsel knarren und die eisernen Radreifen klappern. In der Nähe krachten Schüsse, zuerst einer, gefolgt von dreien, dann weiteren.

»Ich werde nicht deine Dienerin sein«, sagte Mariam. »Das kommt überhaupt nicht in Frage.«

Das Mädchen fuhr zusammen. »Nein. Natürlich nicht.«

»Es soll wohl sein, dass du in diesem Palast die malika bist und ich eine dehati, aber ich werde keine Befehle von dir entgegennehmen. Ausgeschlossen. Du kannst dich bei ihm beschweren, und vielleicht wird er damit drohen, mir die Kehle aufzuschlitzen. Aber ich werde nicht deine Dienerin sein. Hast du gehört?«

»Ja. Ich habe auch gar nicht erwartet…«

»Und wenn du glaubst, du könntest mich mit deinem hübschen Aussehen vertreiben, liegst du falsch. Ich war hier zuerst. Ich lasse mich nicht rauswerfen, schon gar nicht von dir.«

»Das will ich doch gar nicht«, erwiderte das Mädchen kleinlaut.

»Wie ich sehe, sind deine Verletzungen verheilt. Es hält dich also nichts mehr davon ab, mir im Haus zur Hand zu gehen.«

Das Mädchen nickte eifrig und verschüttete dabei ein paar Tropfen Tee, was ihm aber nicht auffiel. »Ja, das ist der andere Grund, warum ich gekommen bin; dafür zu danken, dass du dich um mich gekümmert hast.«

»Leider«, versetzte Mariam. »Ich hätte es nicht getan, wenn ich gewusst hätte, dass du mir den Mann ausspannst.«

»Ausspannst…?«

»Ich werde nach wie vor kochen und das Geschirr spülen, die Wäsche machen und die Zimmer ausfegen. Mit allen anderen Aufgaben werden wir uns täglich abwechseln. Und noch etwas. An deiner Gesellschaft ist mir nicht gelegen. Ich will sie nicht. Ich will allein sein. Du wirst mich in Ruhe lassen, und ich lasse dich in Ruhe. Nur so kommen wir miteinander klar. Das sind die Regeln.«

Während Mariam dies sagte, hämmerte ihr das Herz; der Mund war wie ausgedörrt. So schroff hatte sie noch nie gesprochen, noch nie hatte sie ihren Willen so deutlich zum Ausdruck gebracht. Diese neue Standfestigkeit hätte ihr Auftrieb geben können, doch ihre Genugtuung hielt sich angesichts des Mädchens, das in Tränen aufgelöst vor ihr

stand, in Grenzen.

Sie reichte ihm die Hemden.

»Leg sie in die almari, nicht in den Kleiderschrank. Er möchte die weißen in der oberen Schublade haben, die anderen in der Mitte, zusammen mit den Socken.«

Das Mädchen setzte das Teeglas auf dem Boden ab und streckte die Arme aus, die Handfläche nach oben gewendet. »Es tut mir alles schrecklich leid«, krächzte es.

»Das sollte es auch«, erwiderte Mariam. »Dazu hast du allen Grund.«

32

Laila

Laila erinnerte sich an einen Besuch in diesem Haus vor vielen Jahren, als Mami einen ihrer guten Tage gehabt hatte. Die Frauen saßen im Garten und aßen frische Maulbeeren, die Wajma vom Baum in ihrem Hof gepflückt hatte, pralle weiße und rosafarbene Beeren; manche waren auch purpurn wie die kleinen Äderchen auf Wajmas Nase.

»Ihr habt doch gehört, wie sein Sohn ums Leben gekommen ist«, hatte Wajma gesagt und sich dann eine Handvoll Beeren in den eingefallenen Mund gestopft.

»Er ist ertrunken, nicht wahr?«, fragte Gitis Mutter Nila nach. »Im Ghargha-See. War’s nicht so?«

»Aber wusstet ihr auch, wusstet ihr, dass Raschid…« Wajma hob einen Finger, nickte bedächtig mit dem Kopf und ließ die Frauen warten, bis sie die Beeren zerkaut und geschluckt hatte. »Wusstet ihr, dass er damals an der sharab-Flasche hing und an diesem Tag sturzbetrunken war? Wirklich wahr. Volltrunken soll er gewesen sein. Und das schon am Vormittag. Gegen Mittag hing er auf seinem Campingstuhl und konnte sich nicht mehr rühren. Selbst wenn die Mittagskanone gleich neben seinem Ohr abgefeuert worden wäre, hätte er nicht mit der Wimper gezuckt.«

Laila erinnerte sich daran, wie Wajma die Hand vor den Mund gelegt, laut aufgestoßen und mit der Zunge nach Resten zwischen den Zähnen gefischt hatte.

»Alles Weitere könnt ihr euch vorstellen. Der Junge ging unbeaufsichtigt in den See. Man entdeckte ihn erst sehr viel später, mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser treibend. Helfer kamen herbeigerannt; sie versuchten, beide wiederzubeleben, den Jungen und den Vater. Einer beugte sich über den Jungen, um ihn zu beatmen…, von Mund zu Mund, wie man so was macht. Es war zwecklos. Das stellte sich schnell heraus. Der Junge lebte nicht mehr.«

Laila erinnerte sich an Wajmas erhobenen Finger, an ihre vor Eifer und Ehrfurcht zitternde Stimme. »Darum verbietet der Heilige Koran den sharab. Weil es immer die Unschuldigen trifft, die für die Sünden der Betrunkenen bezahlen müssen. So ist es.«

Es war diese Geschichte, die Laila durch den Kopf ging, als sie Raschid mitteilte, dass sie schwanger war, woraufhin er auf sein Fahrrad sprang, zur nächsten Moschee radelte und um einen Sohn bat.

Beim Abendessen sah Laila Mariam dabei zu, wie sie einen Fleischbrocken auf ihrem Teller herumschob. Laila war zugegen gewesen, als Raschid die Neuigkeit mit schrillem Überschwang verkündete — eine solch fröhliche Grausamkeit hatte Laila noch nie miterlebt. Mariams Augenlider flackerten, als sie es hörte. Sie errötete und hockte wie verloren da.