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Als Raschid auf sein Zimmer ging, um Radio zu hören, half Laila dabei, die sofrah abzuräumen.

»Womit wärst du wohl jetzt zu vergleichen?«, fragte Mariam, die Reiskörner und Brotkrumen von der Decke sammelte. »Wo du doch vorher schon ein Benz gewesen bist.«

Laila versuchte es mit Heiterkeit. »Mit einem Zug? Oder vielleicht einem Jumbojet?«

Mariam richtete sich auf. »Du glaubst hoffentlich jetzt nicht, von den Haushaltspflichten befreit zu sein.«

Laila lag eine Entgegnung auf der Zunge, sie rief sich aber ins Bewusstsein, dass Mariam die einzige Unschuldige von allen Beteiligten war. Mariam und das Baby.

Später im Bett brach Laila in Tränen aus.

Was los sei, wollte Raschid wissen und hob mit der Hand ihr Kinn. Ob es ihr nicht gut gehe. Ob das Baby Probleme mache.

Ob sie von Mariam schlecht behandelt werde.

»Das ist es, nicht wahr?«

»Nein.«

»Wallah o billah, ich gehe jetzt runter und erteile ihr eine Lektion. Wofür hält sie sich, dieser harami, dass sie dich…«

»Nein!«

Er war schon aufgesprungen. Sie ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück. »Lass das! Nein! Sie behandelt mich anständig. Ich brauche eine Minute, das ist alles. Es geht mir schon wieder besser.«

Er setzte sich auf die Bettkante und streichelte ihren Hals. Seine Hand fuhr tiefer, bis auf den Rücken und wieder zurück. Er beugte sich über sie und entblößte seine schief stehenden Zähne.

»Dann wollen wir mal sehen«, schnurrte er. »Wär doch gelacht, wenn’s mir nicht gelänge, dich in bessere Stimmung zu bringen.«

Zuerst verloren die Bäume — die wenigen, die nicht zu Feuerholz zerhackt worden waren — ihre fleckig gelben und kupferfarbenen Blätter. Dann brausten Winde kalt und rau über die Stadt hinweg. Sie rissen das letzte Laub von den Bäumen, die nun vor dem gedeckten Braun der Hügel wie Gespenster anmuteten. Der erste Schneefall war leicht, und die Flocken schmolzen, kaum dass sie den Boden berührten. Dann setzte der Frost ein. Schnee häufte sich auf den Flachdächern und sammelte sich in den Fensternischen hinter Glasscheiben voller Eisblumen. Mit dem Schnee kamen auch die bunten Drachen, einst Beherrscher des Winterhimmels über Kabul, jetzt aber nur als schüchterne Gäste in dem von Raketen und Kampfjets eingenommenen Luftraum.

Raschid brachte immer neue Nachrichten über den Krieg mit nach Hause und verwirrte Laila mit seinen Ausführungen über wechselnde Allianzen. Nach seinen Informationen bekämpfte Sayyaf die Hazaras, die ihrerseits mit Massoud im Streit lagen.

»Und der legt sich mit Hekmatyar an, der von den Pakistani unterstützt wird. Die beiden, Massoud und Hekmatyar, sind Todfeinde. Sayyaf schlägt sich auf Massouds Seite. Und Hekmatyar hat jetzt die Hazaras als Verbündete.«

Und was den unberechenbaren Usbeken-Kommandeur Dostum betreffe, sagte Raschid, wisse keiner so recht, wo er stehe. Dostum hatte in den achtziger Jahren zusammen mit den Mudschaheddin gegen die Sowjets gekämpft, sich aber nach deren Abzug der kommunistischen Schattenregierung Nadschibullahs angeschlossen, wofür ihm von Nadschibullah persönlich ein Orden verliehen worden war. Dann aber wechselte er die Seiten erneut und kehrte zu den Mudschaheddin zurück. Zurzeit sehe es danach aus, sagte Raschid, dass Dostum gemeinsame Sache mit Massoud mache.

In Kabul, vor allem im Westen der Stadt, standen zahllose Gebäude in Brand; über verschneiten Straßen stiegen schwarze Rauchwolken auf. Botschaften wurden evakuiert, Schulen geschlossen. In den Aufnahmesälen der Krankenhäuser warteten Dutzende von Verletzten vergeblich auf ärztliche Hilfe; viele verbluteten, während in den Operationssälen Glieder ohne Betäubung amputiert wurden.

»Aber mach dir keine Sorgen«, sagte Raschid. »Hier bei mir bist du in Sicherheit, meine Blume, meine Gul. Sollte jemand versuchen, dir wehzutun, werde ich ihm die Leber herausreißen und sie ihm zu fressen geben.«

In diesem Winter kam sich Laila wie eingemauert vor. Sehnsüchtig dachte sie an den offenen Himmel ihrer Kindheit, an die Tage, an denen sie mit Babi den buzkashi-Turnieren zugesehen hatte oder mit Mami in Mandaii zum Einkaufen gegangen war, oder als sie unbeschwert durch die Straßen gelaufen und sich mit Giti und Hasina über Jungs unterhalten hatte. Und sie dachte an die Tage, als sie und Tarik an irgendeinem mit Klee überwucherten Bachufer gesessen, Rätsel und Süßigkeiten ausgetauscht und in den Sonnenuntergang geblickt hatten.

Doch es tat ihr nicht gut, an Tarik zu denken, denn am Ende sah sie ihn immer auf einem Krankenbett liegen, den verbrannten Körper mit Kanülen gespickt. In diesen Tagen stieg ihr häufig ätzende Galle in den Schlund; ebenso wehrlos war sie gegen den lähmenden Schmerz, der aus dem Innersten auf sie übergriff. Ihre Beine drohten dann unter ihr wegzuknicken, und sie musste sich festhalten, um nicht zu stürzen.

Den Winter 1992 verbrachte sie damit, das Haus auszufegen, die kürbisfarbenen Wände des Schlafzimmers, das sie mit Raschid teilte, abzuschrubben und in einem großen kupfernen lagaan draußen im Hof Wäsche zu waschen. Manchmal sah sie sich, wie vom eigenen Körper getrennt, über den Rand des lagaan gebeugt, die Ärmel bis über beide Ellbogen hochgekrempelt, mit roten Händen das Seifenwasser aus Raschids Unterhemden wringen. In solchen Momenten fühlte sie sich wie eine Schiffbrüchige auf offenem Meer.

Wenn es zu kalt war, um in den Hof zu gehen, geisterte Laila durchs Haus. Sie fuhr mit dem Fingernagel die Wände entlang, ging im Flur auf und ab, die Treppe hinauf und wieder hinunter. Sie konnte sich nicht aufraffen, das Gesicht zu waschen oder die Haare zu kämmen. Wenn sie auf Mariam traf, die gerade eine Paprikaschote zerkleinerte oder Fettschichten vom Fleisch trennte, warf diese ihr nur einen flüchtigen, freudlosen Blick zu. Dann machte sich ein schmerzliches Schweigen zwischen ihnen breit, und Laila spürte eine Feindseligkeit, die ihr wie ein heißer Schwall entgegenschlug. Sie zog sich dann auf ihr Zimmer zurück und betrachtete vom Bett aus das Schneegestöber vorm Fenster.

Eines Tages nahm Raschid sie mit in sein Schuhgeschäft.

Unterwegs ging er neben ihr her und hielt mit der Hand ihren Ellbogen gestützt. Sich auf der Straße zu bewegen kam für Laila einer Übung zur Abwehr von Verletzungen gleich. Sie hatte sich immer noch nicht an das einengende Gitterfenster der Burka gewöhnen können und stolperte zudem immer wieder über den Saum. Sie war in ständiger Sorge, einen falschen Schritt zu tun und zu stürzen. Gleichwohl fand sie Trost in der Anonymität, zu der ihr die Burka verhalf. Falls ihr Bekannte von früher begegneten, bliebe sie unerkannt. Es bliebe ihr erspart, verwunderten Blicken standhalten zu müssen, dem Mitleid oder der heimlichen Freude darüber, wie tief sie gefallen war und wie gründlich sich all ihre Hoffnungen zerschlagen hatten.

Raschids Geschäft war größer und heller als erwartet. Er ließ sie vor der Werkbank Platz nehmen, auf der sich alte Sohlen und Lederreste häuften. Er zeigte ihr seine Hämmer, führte ihr die Schleif maschine vor und beschrieb mit hoher stolzer Stimme seine Arbeit.

Er befühlte ihren Bauch, wobei er sich nicht etwa damit begnügte, die Hand auf das Kleid zu legen; er griff darunter und fuhr mit kalten, rauen Fingerkuppen über die gespannte Haut. Laila erinnerte sich an die weichen, aber kräftigen Hände Tariks, an die auf den Handrücken hervortretenden Venen, die einen so männlichen Eindruck auf sie gemacht hatten.

»Wie schnell der anschwillt«, sagte Raschid. »Es wird bestimmt ein großer Junge. Mein Sohn wird ein strammer pahlawan sein. Wie sein Vater.«