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Laila strich das Kleid glatt. Ihr wurde angst und bange, wenn er so sprach.

»Wie geht es dir, Laila?«

Sie antwortete, dass mit ihr alles in Ordnung sei.

»Gut. Gut.«

Von dem ersten heftigen Streit mit Mariam erzählte sie nichts.

Dazu war es vor wenigen Tagen gekommen. Laila hatte sie in der Küche angetroffen, wo sie eine Schublade nach der anderen aufriss und wieder zurammte. Sie suchte, wie sie sagte, nach dem langen Holzlöffel, mit dem sie immer den Reis umrührte.

»Wo hast du ihn hingetan?«, herrschte sie Laila an.

»Ich? Ich hab ihn nicht in der Hand gehabt. Wann wäre ich schon einmal hier in der Küche?«

»Gute Frage.«

»Soll das ein Vorwurf sein? Du willst es ja so. Du wirst dich wohl erinnern, mir ausdrücklich gesagt zu haben, dass du die Mahlzeiten zubereitest. Wenn du aber willst, dass wir uns abwechseln…«

»Soll das heißen, dem Löffel sind Beine gewachsen und er hat sich von allein davongemacht? Klammheimlich? Das ist passiert, ja, degeh?«

Laila versuchte, Ruhe zu bewahren. Normalerweise fiel es ihr nicht schwer, Mariams Hohn und Zurechtweisungen zu ertragen. An diesem Tag hatte sie allerdings schon seit dem frühen Morgen schreckliches Sodbrennen; außerdem waren die Fußgelenke angeschwollen, und ihr dröhnte der Kopf. »Es könnte ja auch sein, dass du ihn verlegt hast«, sagte sie.

»Verlegt?« Mariam zerrte eine Schublade so heftig auf, dass ihr Inhalt schepperte. »Seit wann bist du hier? Seit ein paar Monaten. Ich lebe bereits neunzehn Jahre in diesem Haus, dokhtar jo. Dieser Löffel lag schon in dieser Schublade, als du noch in die Windeln gemacht hast.«

»Trotzdem…« Laila konnte sich kaum mehr beherrschen. Zwischen zusammengebissenen Zähne stieß sie hervor: »Trotzdem ist es möglich, dass du ihn irgendwo liegen gelassen und vergessen hast.«

»Und es ist möglich, dass du ihn versteckt hast, um mich zu ärgern.«

»Du bist zu bedauern«, entgegnete Laila.

Mariam zuckte zusammen, hatte sich aber schnell erholt und schürzte die Lippen. »Und du bist eine Hure. Eine Hure und ein dozd. Eine diebische Hure. Das bist du.«

Daraufhin gerieten beide außer Kontrolle. Es hätte nicht viel gefehlt, und Töpfe und Geschirr wären geflogen. Die beiden warfen sich Gemeinheiten an den Kopf, Worte, für die sich Laila jetzt schämte. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Laila war immer noch erschrocken über sich selbst; nicht nur, dass sie sich zu diesen Ausfällen hatte hinreißen lassen, es hatte ihr sogar gefallen, Mariam anzuschreien, sie zu verfluchen und in ihr eine Zielscheibe zu finden, auf die sich alle Wut und Trauer richten ließ.

Vielleicht, so dachte Laila einsichtig, mochte es für Mariam nicht anders sein.

Nach dem Streit war sie nach oben gelaufen und hatte sich auf Raschids Bett geworfen. Von unten schallte es herauf: »Schande über dein Haupt! Schande über dein Haupt!« Laila schluchzte ins Kissen. Der Verlust ihrer Eltern schmerzte sie plötzlich so sehr wie seit den schrecklichen Tagen nach dem Anschlag nicht mehr. Und so lag sie da, die Hände im Laken verkrallt, als sie etwas spürte, das allen Schrecken vergessen ließ. Nach Luft schnappend, richtete sie sich auf und fuhr mit den Händen an den Bauch.

Das Kind hatte soeben zum ersten Mal mit dem Fuß ausgetreten.

33

Mariam

Im Frühjahr 1993 stand Mariam eines Morgens in aller Frühe vorm Fenster des Wohnzimmers und sah Raschid das Mädchen aus dem Haus führen. Das Mädchen schleppte sich, leicht nach vorn gebeugt, voran und hielt einen Arm schützend um den Bauch gelegt, dessen kugelrunde Form sich selbst unter der Burka abzeichnete. Raschid, überaus fürsorglich und aufmerksam, stützte sie am Ellbogen und führte sie wie ein Verkehrspolizist über den Hof. Er gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, dass sie einen Augenblick warten möge, beeilte sich, das Tor zu öffnen, hielt es mit einem Fuß auf und winkte das Mädchen zu sich. Als sie ihn erreichte, nahm er sie bei der Hand und half ihr auf die Straße. Mariam glaubte fast, ihn sagen zu hören: »Gib acht, wohin du trittst, meine Blume, meine gul

Am frühen Abend kehrten sie zurück.

Mariam sah Raschid als Ersten den Hof betreten. Das Tor ließ er zurückfallen; es schlug dem Mädchen fast ins Gesicht. Mit schnellen, kurzen Schritten durchquerte er den Hof. Mariam bemerkte einen Schatten auf seiner Miene, der tiefer war als die Schatten der kupfrigen Abenddämmerung. Im Haus zog er den Mantel aus und warf ihn auf die Couch. »Ich habe Hunger. Bring das Essen auf den Tisch«, knurrte er Mariam an.

Die Haustür ging auf. Mariam sah das Mädchen mit einem Bündel in der linken Armbeuge auf der Schwelle. Mit einem Fuß in der Tür bückte sie sich, um den Papierbeutel mit ihren Sachen vom Boden aufzuheben, den sie dort abgestellt hatte, um die Tür zu öffnen. Ihr war anzusehen, wie schwer es ihr fiel. Sie hob den Kopf und erblickte Mariam.

Mariam wandte sich von ihr ab und ging in die Küche, um für Raschid das Essen aufzuwärmen.

»Als würde einem ein Schraubenzieher ins Ohr gerammt«, stöhnte Raschid und rieb sich die verquollenen Augen. Er stand, nur mit einem vor dem Bauch zusammengeknoteten tumban bekleidet, in der Tür zu Mariams Zimmer. Die weißen Haare standen ihm wirr vom Kopf. »Dieses Schreien. Ich kann’s nicht länger ertragen.«

Unten ging das Mädchen mit dem Baby durch den Flur und versuchte, es mit einem Lied zu beruhigen.

»Seit zwei Monaten habe ich nicht mehr richtig durchschlafen können«, beklagte sich Raschid. »Und im Schlafzimmer stinkt’s wie auf einem Abort. Überall liegen die vollgeschissenen Windeln herum. Gestern Abend bin ich in eine reingetreten.«

Mariam empfand eine hämische Freude, die sie sich aber nicht anmerken ließ.

»Geh mit ihr nach draußen!«, brüllte Raschid nach unten. »Kannst du nicht mit ihr rausgehen?«

Das Singen verstummte. »Sie erkältet sich noch.«

»Es ist Sommer.«

»Was?«

Raschid verzog das Gesicht. »Ich sagte, draußen ist es warm genug«, brüllte er noch lauter.

»Ich gehe nicht mit ihr nach draußen.«

Das Singen setzte wieder ein.

»Irgendwann, ich schwör’s, irgendwann werde ich das Ding in einer Kiste auf dem Kabul aussetzen. Wie Moses.«

Mariam hatte ihn seine Tochter noch nie bei ihrem Namen –Aziza, die Verehrte — nennen hören. Er bezeichnete sie nur als »das Baby« oder, wenn er gereizt war, »das Ding«.

In manchen Nächten gab es Streit zwischen den Eltern. Mariam schlich dann auf Zehenspitzen an die Schlafzimmertür und lauschte. Sie hörte ihn über das Kind klagen, über das andauernde Schreien, die stinkenden Windeln und Spielzeuge, über die er immer wieder stolperte, darüber, dass er von Laila gar nicht mehr beachtet wurde, weil sich alles nur um das Ding drehte, das ständig gefüttert, gewaschen und gehalten werden wollte. Das Mädchen hingegen schimpfte, dass er im Zimmer rauchte und das Kind nicht mit in ihrem Bett schlafen ließ.

Es gab auch andere Auseinandersetzungen, ausgetragen in wütendem Flüsterton.

»Der Arzt sagt, allenfalls sechs Wochen.«

»Jetzt noch nicht, Raschid. Nein. Lass mich. Bitte. Tu’s nicht.«

»Es ist schon zwei Monate her.«

»Psst, leise. Na prima, jetzt hast du das Baby aufgeweckt.« Und mit schärferer Stimme: »Kosh shodi? Endlich zufrieden?«

Mariam war dann zurück in ihr Zimmer geschlichen.

Jetzt jammerte Raschid: »Kannst du nicht irgendwie helfen?«

»Ich kenne mich mit Babys nicht aus«, antwortete Mariam.

»Raschid! Bringst du mal das Fläschchen? Es steht auf der almari. Sie will nicht trinken. Ich muss es mit der Flasche versuchen.«