Dreimal wurde Mariam in dieser Nacht aus dem Schlaf gerissen. Zuerst waren es die Raketen im Westen, abgefeuert in der Gegend um Karteh-Char. Dann wurde sie vom Schreien des Säuglings, den Beruhigungsversuchen des Mädchens und dem Klappern eines Löffels an der Milchflasche geweckt. Schließlich war es der Durst, der sie aus dem Bett holte.
Das Wohnzimmer war dunkel bis auf einen Mondstrahl, der durchs Fenster fiel. Mariam hörte irgendwo eine Fliege summen, sah die Umrisse des gusseisernen Ofens in der Ecke, dessen Rohr knapp unter der Decke rechtwinklig abgebogen war.
Auf dem Weg in die Küche stolperte Mariam über ein Hindernis am Boden. Als sie den Blick darauf richtete, erkannte sie das Mädchen, ausgestreckt auf einer Steppdecke, den Säugling im Arm.
Das Mädchen lag auf der Seite und schnarchte leise. Das Baby war wach. Mariam zündete die Kerosinlampe auf dem Tisch an und ging in die Hocke. Im Schein der Lampe betrachtete sie das Kind zum ersten Mal aus der Nähe, seinen dunklen Haarschopf, die langen Wimpern, haselnussbraunen Augen, rosigen Wangen und Lippen, die so rot wie reife Granatäpfel waren.
Mariam hatte den Eindruck, dass auch das Baby sie mit forschendem Blick betrachtete. Es lag auf dem Rücken, hatte den Kopf ein wenig zur Seite gedreht und schaute zu ihr auf, amüsiert, verwirrt und argwöhnisch zugleich. Mariam fragte sich, ob sie der Kleinen womöglich Angst machte, doch dann quiekte das Baby freudig, und Mariam wusste, dass ihr Anblick erwünscht war.
»Psst«, flüsterte Mariam. »Du weckst noch deine Mutter, todmüde, wie sie ist.«
Das Kind ballte eine Hand zur Faust, die hin und her ruckte, aber dann den Weg zum Mund fand. Die Finger zwischen den zahnlosen Gaumen, lächelte es Mariam an und brachte prustend Speichelblasen zwischen den Mundwinkeln hervor.
»Sieh dich an. Was für ein trauriges Bild du abgibst, angezogen wie ein Junge. Und so dick eingepackt bei dieser Hitze! Kein Wunder, dass du wach bist.«
Mariam schlug die Decke beiseite, fand zu ihrem Schrecken eine zweite darunter und lüftete auch diese, wobei sie mit der Zunge schnalzte. Das Kind lachte erleichtert und schwang die Arme wie ein Vogel.
»Besser, oder?«
Als sich Mariam aufzurichten versuchte, ergriff das Kind ihren kleinen Finger und hielt ihn fest umklammert. Seine kleine Hand war warm, weich und feucht vom Speichel.
»Gunuh«, sagte es.
»Gut jetzt, bas, lass los.«
Das Kind hielt fest und strampelte mit den Beinen.
Mariam zog ihren Finger frei. Das Baby strahlte, gab gurgelnde Laute von sich und führte die Hand wieder zum Mund.
»Worüber freust du dich so? He? Warum lachst du? Anscheinend bist du doch nicht so clever, wie deine Mutter behauptet. Du hast einen Rohling als Vater und eine Närrin als Mutter. Wenn dir das klar wäre, würde dir das Lachen vergehen. Glaub mir. Und jetzt versuch zu schlafen. Na los.«
Mariam stand auf und wandte sich zur Tür. »Eh, eh, eh«, machte das Kind und signalisierte damit, dass es gleich zu schreien anfangen würde. Mariam kehrte zu ihm zurück.
»Was ist? Was willst du von mir?«
Das Kind strahlte übers ganze Gesicht.
Mariam seufzte. Sie setzte sich auf den Boden, gab dem Kind ihren kleinen Finger wieder zum Spielen und sah, wie es sich freute, die kleinen runden Beinchen in die Luft hob und zu strampeln anfing. Mariam schaute ihm zu, bis es die Augen schloss und eingeschlafen war.
Draußen fingen die Drosseln zu zwitschern an, und wenn sie aufflatterten, sah Mariam ihre Flügel im bläulichen Licht des Mondes schwingen, der durch die Wolken strahlte. Und obwohl ihre Kehle vor Durst wie ausgetrocknet war und ihre Beine einzuschlafen drohten, blieb sie noch lange am Boden hocken, bevor sie ihren Finger vorsichtig aus der Hand des Säuglings befreite und aufstand.
34
Für Laila gab es nichts Schöneres, als neben Aziza zu liegen, so dicht vor ihrem Gesicht, dass sie die großen Pupillen sehen konnte, wie sie sich weiteten und zusammenzogen. Sie liebte es, Azizas weiche Haut zu streicheln, mit dem Finger über die Grübchen in den Handknöcheln zu fahren oder die Pölsterchen am Ellbogen zu befühlen. Manchmal legte sie sich Aziza auf die Brust und erzählte ihr flüsternd von Tarik, dem Vater, der ihr immer fremd bleiben und den sie nie zu Gesicht bekommen würde. Sie erzählte ihr von seinen Streichen, dem Unfug, den er angestellt hatte, von seinem herzhaften Lachen und davon, wie gut er im Lösen von Rätseln gewesen war.
»Er hatte die hübschesten Wimpern, die so lang wie deine waren, ein kräftiges Kinn, eine schmale Nase und eine gewölbte Stirn. Ja, dein Vater, Aziza, sah wirklich toll aus. Er war vollkommen. Vollkommen, wie du es bist.«
Doch Laila hütete sich, seinen Namen auszusprechen.
Manchmal ertappte sie Raschid dabei, dass er Aziza auf höchst sonderbare Weise musterte. Eines Abends — er saß auf dem Schlafzimmerboden und hobelte sich ein Hühnerauge vom Fuß — fragte er wie beiläufig: »Na, wie war das eigentlich so, zwischen euch beiden?«
Laila warf ihm einen verwunderten Blick zu und tat so, als ob sie ihn nicht verstünde.
»Laila und Madschnun. Zwischen dir und dem yaklenga, dem Krüppel. Was lief da zwischen euch?«
»Er war mein Freund«, sagte sie, vorsichtig darauf bedacht, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Sie war gerade dabei, ein Fläschchen für die Kleine fertig zu machen. »Das weißt du.«
»Mir geht’s nicht um das, was ich weiß.« Raschid legte das Messer auf den Fenstersims und ließ sich ins Bett fallen. Die Federn protestierten mit lautem Quietschen. Er spreizte die Beine und griff sich in den Schritt. »Habt ihr als… Freunde irgendetwas angestellt, was nicht in Ordnung war?«
»Nicht in Ordnung?«
Raschid schmunzelte leutselig, doch sie spürte seinen kalten, wachsamen Blick auf sich. »Nun, hat er dir jemals einen Kuss gegeben? Dir womöglich seine Hand auf Stellen gelegt, wo sie nicht hingehört hat?«
Laila gab sich empört und hoffte, damit zu überzeugen. Sie spürte das Herz im Hals schlagen. »Er war mir wie ein Bruder.«
»Was war er denn nun, Freund oder Bruder?«
»Beides, er…«
»Wie bitte?«
»Er war mir beides.«
»Brüder und Schwestern sind neugierige Wesen. Ja. Ein Bruder zeigt seiner Schwester manchmal sein Piephahn, und eine Schwester… «
»Du bist ekelhaft«, sagte Laila.
»Es war also nichts.«
»Ich will davon nichts mehr hören.«
Raschid legte den Kopf zur Seite, schürzte die Lippen und nickte. »Es wurde getratscht. Ich weiß davon. Man konnte allerlei über euch hören. Aber du behauptest, da war nichts.«
Sie musste sich überwinden, ihm ins Gesicht zu sehen.
Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt er ihrem Blick stand, was sie so einschüchterte, dass es ihr nur mit letzter Kraftanstrengung gelang, die Fassung zu bewahren. Die Knöchel der Hand, mit der sie die Milchflasche umklammert hielt, liefen weiß an.
Sie erzitterte bei dem Gedanken an das, was zu befürchten wäre, fände er heraus, dass sie ihn bestahl. Seit Azizas Geburt vergriff sie sich Woche für Woche an seiner Brieftasche, wenn er schlief oder außer Haus war, und entwendete ihr jeweils einen Schein. Manchmal, wenn wenig Geld darin war, nahm sie nur einen Fünfer oder gar nichts, aus Angst, er könnte es bemerken. War die Brieftasche aber prall gefüllt, riskierte sie es, einen Zehner oder Zwanziger zu nehmen. Einmal stahl sie sogar zwei Zwanziger. Das Geld versteckte sie in einer Tasche, die sie in das Futter ihres karierten Wintermantels eingenäht hatte.
Sie fragte sich, was er täte, wenn er erführe, dass sie im kommenden Frühling die Flucht ergreifen wollte. Spätestens im nächsten Sommer. Bis dahin hoffte Laila, rund tausend Afghanis oder mehr zurückgelegt zu haben. Die Hälfte davon würde sie allein schon für die Busfahrkarte von Kabul nach Peschawar ausgeben müssen. Wenn es so weit war, wollte sie den Ehering zum Pfandhaus bringen, wie auch den anderen Schmuck, den Raschid ihr geschenkt hatte, als sie noch die malika in seinem Schloss gewesen war.