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Während der vergangenen Monate jedoch waren ihr Laila und Aziza, die, wie sich herausstellte, wie sie ein harami war, ans Herz gewachsen. In der Aussicht darauf, ohne sie auskommen zu müssen, erschien ihr das Leben, das sie so viele Jahre stoisch ertragen hatte, plötzlich nicht länger erträglich.

Wir werden noch in diesem Frühjahr Kabul verlassen. Aziza und ich. Komm mit uns, Mariam.

Mariam hatte schwere Zeiten mitgemacht. Aber vielleicht warteten auf sie noch ein paar freundliche Jahre, ein neues Leben, das Versprechungen bereithielt, von denen Nana gesagt hatte, dass sie einem harami vorenthalten blieben. Ganz unerwartet waren zwei neue Blumen gewachsen. Den fallenden Schnee vor Augen, dachte Mariam an Mullah Faizullah und stellte sich vor, wie er sich, seine tasbeh-Perlen befingernd, zu ihr beugte und ihr mit seiner weichen zittrigen Stimme zuflüsterte: »Es ist Gott, der sie gepflanzt hat, Mariam jo. Und es ist sein Wille, dass du sie pflegst. Es ist sein Wille, mein Mädchen.«

36

Laila

An diesem Frühlingsmorgen 1994, als sich das Tageslicht allmählich gegen die Dunkelheit am Himmel durchsetzte, war sich Laila fast sicher, dass Raschid eine Vorahnung haben könnte. Dass er sie jeden Moment aus dem Bett reißen und fragen würde, ob sie ihn tatsächlich für einen khar, einen Esel, halte, der sich auf Dauer täuschen ließe. Doch dann wurde zum athan gerufen, die Morgensonne fiel schräg über die flachen Dächer, die Hähne schrien, und das, was sie befürchtete, blieb aus.

Sie hörte Raschid, wie er im Badezimmer seinen Rasierer am Schüsselrand abklopfte, nach unten ging und den Teekessel aufsetzte. Die Schlüssel klirrten. Jetzt durchquerte er den Hof und ging auf sein Fahrrad zu.

Am Wohnzimmerfenster spähte Laila durch einen Schlitz zwischen den Vorhängen nach draußen. Sie sah ihn davonradeln, einen dicken Mann auf kleinem Fahrrad. Das Sonnenlicht blinkte auf der Lenkstange.

»Laila?«

Mariam stand in der Tür. Ihr war anzusehen, dass auch sie nicht geschlafen hatte. Wahrscheinlich, so dachte Laila, war auch sie die ganze Nacht über von Euphorie und Attacken lähmender Angst hin und her gerissen worden.

»In einer halben Stunde brechen wir auf«, sagte Laila.

Im Taxi sprachen sie miteinander kein Wort. Aziza saß auf Mariams Schoß; sie hielt ihre Puppe in den Händen und bestaunte mit großen Augen die vor den Scheiben vorbeifliegende Stadt.

»Ona!«, rief sie und zeigte auf eine Gruppe seilspringender Mädchen. »Mayam! Ona.«

Überall glaubte Laila Raschid zu sehen, vor dem rußgeschwärzten Fenster eines Friseurladens, bei einem Händler, der Hühner verkaufte, oder in einem zur Straße hin offenen Geschäft, in dem sich alte Autoreifen bis zur Decke stapelten.

Sie rutschte tiefer in ihren Sitz.

Mariam murmelte ein Gebet. Laila hätte ihr gern ins Gesicht gesehen, doch Mariam trug — wie sie selbst — eine Burka, in deren Ausschnitt nur das Glitzern ihrer Augen zu erkennen war.

Laila war seit Wochen das erste Mal außer Haus, abgesehen von dem kurzen Besuch beim Pfandverleiher am Tag zuvor, wo sie im Vollgefühl der Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit ihrer Entscheidung den Ehering über die gläserne Ladentheke geschoben hatte.

Ringsum bekam Laila nun die Folgen der jüngsten Kämpfe zu Gesicht, Schutthalden aus Lehm und Ziegeln, Ruinen mit zerbrochenem Gebälk, ausgebrannte Fahrzeugwracks, umgestürzt oder aufeinanderliegend, von großkalibrigen Schusslöchern verwüstete Mauern und überall Glasscherben. Sie sah einen Trauerzug auf eine Moschee zustreben, ganz zum Schluss eine in Schwarz gekleidete alte Frau, die sich an den Haaren zerrte. Sie passierten einen Friedhof voll frischer Gräber und zerrissenen shaheed-Fahnen, die im Wind flatterten.

Laila griff über den Koffer und schloss die Hand um den weichen Arm ihrer Tochter.

Vor der Busstation am Lahore-Tor im Osten Kabuls parkte eine Schlange von Bussen am Straßenrand der Pul-e-Mahmood Khan. Männer in Turbanen hievten Bündel, Pakete und Koffer auf die Dächer der Busse und sicherten sie mit Seilen ab. In der Station drängten sich Reisende vor dem einzigen Fahrkartenschalter. Gruppen von Frauen, in Burkas verhüllt, standen zwischen Bergen von Gepäck und plauderten miteinander. Säuglinge wurden geschaukelt, streunende Kinder zurückgerufen.

Milizionäre der Mudschaheddin patrouillierten in der Station und auf dem Vorplatz. Die knappen Befehle, die sie ausstießen, klangen wie Gebell. Sie trugen Stiefel, pakols und staubgrüne Kampfanzüge. Alle waren mit Kalaschnikows bewaffnet.

Laila fühlte sich beobachtet. Ihr war, als sei sie allen an diesem Ort bekannt, als missbillige jeder, der sie sah, das, was sie und Mariam taten.

»Hast du schon jemanden entdeckt?«, fragte Laila.

»Ich suche noch«, antwortete Mariam und wechselte Aziza von einem Arm auf den anderen.

Dies — und das hatte Laila von Anfang an gewusst — war die erste Schwierigkeit ihres gewagten Unternehmens: einen Begleiter zu finden, der die Rolle eines Familienmitgliedes zu spielen bereit war. Die Freiheiten und Möglichkeiten, die Frauen zwischen den Jahren 1978 und 1992 genossen hatten, gehörten nun der Vergangenheit an. Laila dachte an Babis Worte über die kommunistische Regierung: Es ist wahr, für afghanische Frauen sind gute Zeiten angebrochen, Laila. Seit der Machtergreifung der Mudschaheddin im April 1992 jedoch lautete der offizielle Name ihres Heimatlandes »Islamischer Staat Afghanistan«. Der oberste Gerichtshof unter Rabbani bestand nun mehrheitlich aus rückwärtsgewandten Mullahs, die die von den Kommunisten eingeführten Freiheitsrechte für Frauen rückgängig gemacht und stattdessen Gesetze auf Grundlage der Scharia eingeführt hatten, jener strengen Islamischen Rechtssprechung, die unter anderem Frauen dazu verpflichtete, sich in der Öffentlichkeit zu verschleiern. Außerdem wurde ihnen untersagt, ohne einen männlichen Angehörigen zu verreisen. Noch wurde auf die Einhaltung dieser Gesetze nur wenig geachtet. »Aber wenn sie einmal nicht mehr so sehr damit beschäftigt sind, sich gegenseitig totzuschießen«, hatte Laila zu Mariam gesagt, »dann werden sie die Gesetze mit Eifer durchsetzen.«

Weitere Schwierigkeiten erwarteten sie bei der Ankunft in Pakistan. Im Januar dieses Jahres hatte Pakistan, das bereits mit fast anderthalb Millionen afghanischen Flüchtlingen überfordert war, die Grenzen nach Afghanistan geschlossen. Laila hatte erfahren, dass nur Inhaber eines gültigen Visums durchgelassen wurden. Allerdings war die Grenze immer schon sehr porös gewesen, und Laila wusste, dass nach wie vor Tausende von Afghanen ins Nachbarland flohen, entweder mithilfe von Schmiergeldern oder dem Nachweis humanitärer Gründe. Außerdem gab es genügend Schlepper, die man anheuern konnte. »Wir werden einen Weg finden, wenn es so weit ist«, hatte sie Mariam versprochen.

»Wie wär’s mit dem?«, fragte Mariam jetzt und deutete mit einer Kinnbewegung auf einen Kandidaten.

»Dem traue ich nicht.«

»Und der da?«

»Zu alt. Und außerdem in Begleitung zweier anderer Männer.«

Schließlich fiel Lailas Blick auf einen bärtigen Mann, der neben einer verschleierten Frau auf einer Bank saß. Er war groß und schlank, trug ein Hemd mit offenem Kragen und einen schlichten grauen Mantel, an dem mehrere Knöpfe fehlten. Auf seinem Schoß hockte ein kleiner Junge in Azizas Alter.

»Warte hier«, sagte Laila. Im Weggehen hörte sie Mariam wieder ein Gebet murmeln.