Als sie auf den jungen Mann zuging, blickte er auf und legte die Hand an die Stirn, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen.
»Entschuldigen Sie, Bruder, aber darf ich fragen, ob Sie nach Peschawar fahren?«
»Ja«, antwortete er blinzelnd.
»Könnten Sie uns vielleicht einen Gefallen tun?«
Er reichte seiner Frau den Jungen und trat mit Laila ein paar Schritte beiseite.
»Worum geht’s denn, hamshira?«
Er hatte ein freundliches Gesicht und sanfte Augen, die Laila Mut machten.
Und so erzählte sie ihm die Geschichte, auf die sie sich mit Mariam verständigt hatte. Sie sei eine biwa, eine Witwe, sagte sie, und wolle mit Mutter und Tochter Kabul verlassen, um in Peschawar zu ihrem Onkel zu ziehen.
»Ihr wollt euch mir und meiner Familie anschließen«, sagte der junge Mann.
»Ich weiß, es ist zahmat. Aber mir scheint, Sie sind ein anständiger Bruder, und ich…«
»Keine Sorge, hamshira. Ich verstehe. Kein Problem. Dann will ich mal Karten für euch kaufen.«
»Danke, Bruder. Das ist sawab, eine gute Tat. Gott wird’s vergelten.«
Sie zog einen Umschlag unter ihrer Burka hervor. Er enthielt elfhundert Afghanis, ungefähr die Hälfte des Geldes, das sie in einem Jahr beiseitegelegt hatte. Der junge Mann steckte den Umschlag in seine Hosentasche.
»Warte hier.«
Sie sah ihn in der Station verschwinden. Eine halbe Stunde später kehrte er zurück.
»Es ist besser, wenn ich die Fahrkarten behalte. Der Bus fährt in einer Stunde, gegen elf. Wir steigen dann gemeinsam ein. Mein Name ist Wakil. Wenn es Fragen geben sollte, was ich aber nicht glaube, werde ich sagen, dass du meine Cousine bist.«
Laila nannte ihm ihren Namen und die von Mariam und Aziza. Er werde sie sich merken, sagte er.
»Und haltet euch in unserer Nähe auf«, fügte er hinzu.
Sie nahmen auf der Bank neben Wakil und seiner Familie Platz. Es war ein sonniger, warmer Morgen. Nur über den Bergen in der Ferne schwebten ein paar fedrige Wolken. Mariam gab Aziza einen der Kekse zu essen, an die sie in der Hektik des Aufbruchs zum Glück noch gedacht hatte. Sie bot auch Laila einen an.
»Nein, danke«, sagte Laila lachend. »Den würde ich wohl nicht bei mir behalten können. Ich bin so aufgeregt.«
»Ich auch.«
»Danke, Mariam.«
»Wofür?«
»Dafür, dass du mit uns kommst«, antwortete Laila. »Allein würd ich’s wahrscheinlich nicht schaffen.«
»Das musst du auch nicht.«
»Es wird doch alles gut werden, Mariam, da, wo wir hinfahren, oder?«
Mariam streckte den Arm aus und ergriff ihre Hände. »Im Koran heißt es: Und Allah ist der Osten und der Westen, wohin ihr euch auch wendet, folgt ihr Seinem Ratschluss.«
»Bov!«, rief Aziza und zeigte auf einen Bus. »Mayam, bov!«
»Ja, Aziza jo«, sagte Mariam. »Ganz recht, ein bov. Bald werden wir selbst in einem bov fahren. Oh, und was du dann alles zu sehen bekommst.«
Laila lächelte. Auf der anderen Straßenseite sah sie einen Tischler in seiner offenen Werkstatt bei der Arbeit; er hobelte und ließ Späne fliegen. Autos rollten vorbei, die Fenster voller Ruß und Dreck. Sie betrachtete die am Straßenrand parkenden Busse mit ihren an den Seiten aufgemalten Pfauen, Löwen, aufgehenden Sonnen und glitzernden Schwertern.
In der warmen Morgensonne fühlte sich Laila wie berauscht und voller Überschwang. Als ein streunender gelbäugiger Hund vorbeihinkte, beugte sie sich vor und tätschelte ihm den Rücken.
Wenige Minuten vor elf rief ein Mann mit Megafon alle Reisenden nach Peschawar auf, den Bus zu besteigen. Zischend öffneten sich die hydraulischen Türen des Busses. Die Passagiere eilten herbei und drängten.
Wakil gab Laila einen Wink und nahm seinen Sohn auf den Arm.
»Auf geht’s«, sagte Laila.
Wakil ging voraus. Als sie sich dem Bus näherten, sah Laila Gesichter hinter den Fenstern auftauchen, Nasen und Handflächen an die Glasscheiben gepresst. Ein vielstimmiger Chor wünschte lautstark eine gute Reise.
Ein junger Soldat der Miliz kontrollierte die Fahrkarten.
»Bov!«, rief Aziza.
Wakil reichte dem Soldaten die Fahrkarten, der sie in der Mitte durchriss und zurückgab. Wakil half seiner Frau beim Einsteigen. Laila sah, wie er mit dem Soldaten Blicke tauschte. In der Bustür stehend, beugte sich Wakil vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Soldat nickte.
Laila stockte der Atem.
»Ihr zwei da mit dem Kind, zur Seite treten«, sagte der Soldat.
Laila achtete nicht auf ihn und schickte sich an, den Bus zu besteigen. Doch er packte sie bei der Schulter und zerrte sie zurück. »Du auch«, rief er in Richtung Mariam. »Beeilung. Ihr haltet die anderen auf.«
»Wo ist das Problem, Bruder?«, fragte Laila. Sie war wie betäubt. »Wir haben Fahrkarten. Hat mein Cousin sie nicht gezeigt?«
Er winkte mit der Hand ab und rief einen anderen Uniformierten hinzu, dem er etwas zuflüsterte. Der zweite, ein rundlicher Mann mit schläfrigen grünen Augen und einer Narbe auf der rechten Wange, nickte.
»Folgt mir«, sagte er.
»Wir müssen in den Bus«, rief Laila. Sie spürte, wie sich ihre Stimme überschlug. »Wir haben Fahrkarten. Warum tun Sie das?«
»Du wirst diesen Bus nicht besteigen. Vielleicht akzeptierst du das. Du begleitest mich jetzt. Oder willst du, dass ich dir dein Mädchen wegnehme?«
Als sie zu einem Lastwagen geführt wurde, warf Laila einen Blick über die Schulter zurück und sah Wakils Jungen hinter der Heckscheibe des Busses. Er winkte ihnen fröhlich zu.
Auf der Polizeistation am Torabaz-Khan-Platz mussten sie in einem langen Korridor getrennt voneinander Platz nehmen. Zwischen ihnen saß hinter einem Schreibpult ein Mann, der eine Zigarette nach der anderen rauchte und ab und zu auf einer Schreibmaschine herumtippte. Sie warteten über drei Stunden. Aziza trippelte zwischen Laila und Mariam hin und her. Sie spielte mit einer Heftklammer, die ihr der Mann am Pult gegeben hatte, aß die restlichen Kekse und schlief schließlich auf Mariams Schoß ein.
Gegen drei Uhr wurde Laila in ein Verhörzimmer geführt. Mariam und Aziza mussten im Korridor zurückbleiben.
Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches war Mitte dreißig und trug Ziviclass="underline" einen schwarzen Anzug, Krawatte und schwarze Halbschuhe. Er hatte einen sorgfältig gestutzten Bart, kurze Haare und Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren. Er starrte Laila an und klopfte mit dem Radiergummiende eines Bleistifts auf die Schreibtischplatte.
»Wir wissen«, hob er an und räusperte sich, wobei er diskret die geschlossene Hand vor den Mund führte, »dass du heute schon einmal gelogen hast, hamshira. Der junge Mann vom Busbahnhof ist nicht dein Cousin. Das hat er uns selbst gesagt. Jetzt stellt sich die Frage, ob du dieser Lüge weitere hinzuzufügen gedenkst oder nicht. Ich persönlich rate dir davon ab.«
»Wir wollten zu meinem Onkel«, sagte Laila. »Das ist die Wahrheit.«
Der Polizeibeamte nickte. »Die hamshira im Korridor ist deine Mutter?«
»Ja.«
»Sie hat einen Herati-Akzent. Du nicht.«
»Sie ist in Herat aufgewachsen; ich bin in Kabul zur Welt gekommen.«
»Natürlich. Du bist also verwitwet. Das sagtest du doch, oder? Mein Beileid. Und dieser Onkel, dein kaka, wo lebt er?«
»In Peschawar.«
»Ach ja.« Er leckte an der Spitze des Bleistifts und hielt ihn über einem unbeschriebenen Blatt Papier in der Luft. »Wo genau in Peschawar? In welchem Stadtteil? Straßenname, Bezirksnummer.«