Laila spürte Panik in der Brust aufkeimen und versuchte dagegen anzukämpfen. Sie kannte nur eine einzige Straße in Peschawar und nannte ihren Namen — er war damals auf der Party gefallen, die Mami gegeben hatte, als die Mudschaheddin in Kabul eingezogen waren. »Jamrud Road.«
»Ah, die Straße, an der auch das Pearl Continental Hotel liegt. Das hat er bestimmt erwähnt, nicht wahr?«
Laila griff den Hinweis auf und bejahte seine Frage. »Ja, genau dort.«
»Das Hotel liegt allerdings an der Khyber Road.«
Laila konnte Aziza im Korridor schreien hören. »Meine Tochter hat Angst. Dürfte ich sie holen, Bruder?«
»Für dich bin ich Sergeant. Du wirst gleich bei ihr sein. Hast du die Telefonnummer deines Onkels?«
»Ja. Ich hatte sie. Sie ist…« Trotz der Burka war Laila vor seinen durchdringenden Blicken nicht geschützt. »Tut mir leid, ich muss sie verloren haben.«
Er seufzte durch die Nase und fragte nach dem Namen des Onkels, dem Namen seiner Frau. Wie viele Kinder er habe und wie diese hießen. Wo er arbeite. Wie alt er sei. Seine Fragen schüchterten Laila ein.
Er legte den Bleistift ab, faltete die Hände und beugte sich vor wie ein Vater, der seiner kleinen Tochter etwas beizubringen versuchte. »Ist dir klar, hamshira, dass eine Frau ihrem Mann nicht ungestraft weglaufen darf? Solche Fälle häufen sich. Ich habe oft mit Frauen zu tun, die allein reisen und behaupten, verwitwet zu sein. Bei manchen stimmt’s, bei den meisten aber nicht. Ich vermute, du weißt, dass Frauen, die Reißaus zu nehmen versuchen, ins Gefängnis gesteckt werden, nay?«
»Lassen Sie uns gehen, Sergeant…«, sie las seinen Namen von der Marke ab, die an seinem Revers steckte, »Sergeant Rahman. Machen Sie Ihrem Namen Ehre und zeigen Sie Mitleid. Was wäre schon dabei, zwei Frauen laufen zu lassen? Sie riskieren doch nichts. Wir sind keine Kriminellen.«
»Ausgeschlossen.«
»Ich flehe Sie an.«
»Es geht um qanoon, hamshira, um eine Sache des Rechts«, sagte Rahman mit feierlicher, gewichtiger Betonung. »Meine Pflicht besteht darin, für Ordnung zu sorgen.«
Trotz ihrer Verzweiflung hätte Laila fast laut aufgelacht. Die Verwendung dieses Wortes erschien ihr absurd angesichts der brutalen Kämpfe zwischen den Mudschaheddin, der Mordtaten, Plünderungen, Vergewaltigungen und Folter, der Hinrichtungen, Bombenanschläge und Artilleriegefechte, die sie sich lieferten, ohne Rücksicht auf unschuldige Zivilisten zu nehmen, die in ihrem Kreuzfeuer zu Schaden kamen.
Ordnung. Sie biss sich auf die Zunge.
»Kaum auszudenken«, sagte sie mit schleppender Stimme, »was er uns antun wird, wenn Sie uns zurückschicken.«
Es machte ihm sichtlich Mühe, ihrem Blick standzuhalten. »Was ein Mann in seinem Haus für richtig hält, ist allein seine Sache.«
»Und wo bleibt dort das Recht, Sergeant Rahman?« Tränen der Wut traten ihr in die Augen. »Werden Sie zur Stelle sein, um für Ordnung zu sorgen?«
»Wir mischen uns prinzipiell nicht in familiäre Angelegenheiten ein, hamshira.«
»Natürlich nicht. Solange es dem Herrn des Hauses nützt. Und ist nicht auch unser Fall, wie Sie sagen, eine Familienangelegenheit? Ist es nicht so?«
Er stieß sich vom Schreibtisch ab, stand auf und strich sein Jackett glatt. »Unser Gespräch ist beendet. Ich muss sagen, du hast deine Sache sehr schlecht vertreten. Wirklich schlecht. Wenn du jetzt bitte draußen warten würdest, ich habe noch ein paar Fragen an deine — wer ist sie noch gleich? — zu richten.«
Laila protestierte und fing zu schreien an, worauf der Beamte zwei Männer ins Zimmer rief, die sie nach draußen zerrten.
Mariams Verhör dauerte nur wenige Minuten. Mit verzweifelter Miene kehrte sie in den Korridor zurück.
»Er hat so viele Fragen gestellt«, sagte sie. »Es tut mir leid, Laila jo. Ich bin nicht so gewandt wie du. Er hat so viele Fragen gestellt, auf die ich keine Antwort wusste. Es tut mir leid.«
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Mariam«, erwiderte Laila matt. »Es ist meine Schuld, alles meine Schuld.«
Es war kurz nach sechs, als der Polizeiwagen vor dem Haus anhielt. Laila und Mariam wurden aufgefordert, im Auto zu warten. Zwei Milizionäre der Mudschaheddin passten auf sie auf, während der Fahrer ausstieg, den Hof durchquerte und von Raschid an der Haustür empfangen wurde. Es war Raschid, der sie zu sich winkte. »Willkommen zu Hause«, sagte der Mann auf dem Beifahrersitz und zündete sich eine Zigarette an.
»Du wartest hier«, verlangte er von Mariam.
Mariam setzte sich auf die Couch und sagte kein Wort.
»Ihr zwei kommt mit mir nach oben.«
Raschid packte Laila beim Ellbogen und stieß sie die Treppe hinauf. Statt der Latschen, die er sonst immer im Haus anhatte, trug er noch seine Arbeitsschuhe. Auch den Mantel hatte er noch nicht abgelegt. Laila stellte sich vor, wie er soeben, von der Arbeit zurückgekehrt, durch das Haus gerannt sein mochte, von einem Zimmer zum anderen, Türen schlagend, fluchend und außer sich vor Wut.
Auf dem oberen Treppenabsatz angelangt, drehte sich Laila zu ihm um.
»Sie war dagegen«, sagte sie. »Ich habe sie dazu gedrängt. Sie wollte nicht gehen…«
Laila sah den Schlag nicht kommen. Plötzlich lag sie mit weit aufgerissenen Augen am Boden und rang nach Luft. Ihr war, als hätte sie ein Auto mit voller Wucht gerammt. Der Fausthieb war zwischen Brustbein und Bauchnabel aufgetroffen. Aziza lag schreiend neben ihr; sie hatte sie fallen lassen. Der Versuch, nach Luft zu schnappen, ergab nur ein ächzendes Würgen. Speichel tropfte ihr von den Lippen.
Dann spürte sie seine Pranke an ihren Haaren zerren. Sie sah, wie er Aziza vom Boden aufhob, die mit den Beinen strampelte und ihre Sandalen dabei verlor. Haare rissen aus der Kopfhaut. Der Schmerz trieb Laila das Wasser in die Augen. Sie sah, wie er mit dem Fuß die Tür zu Mariams Zimmer aufstieß und das Kind aufs Bett warf. Dann ließ er von ihren Haaren ab und versetzte ihr einen Fußtritt, der sie über die Schwelle warf und vor Schmerz laut aufbrüllen ließ. Er schlug die Tür zu. Ein Schlüssel klickte im Schloss.
Aziza schrie immer noch. Laila lag zusammengerollt am Boden und schnappte nach Luft. Sie stieß sich mit den Händen ab, kroch auf das Bett zu und streckte die Arme nach ihrer Tochter aus.
Unten wurde jetzt geprügelt. Den Geräuschen hörte Laila an, dass dort eine geradezu routinierte, fast methodische Strafaktion durchexerziert wurde. Es gab keine Schreie, kein Fluchen, kein Flehen, nur das dumpfe, rhythmische Schlagen eines festen Gegenstandes. Ein Körper prallte an die Wand, Kleider zerrissen. Zwischendurch waren Laufschritte zu hören, eine stumme Verfolgungsjagd, in deren Verlauf Möbel umstürzten und Glas zersprang. Und dann wieder das Schlagen.
Laila schloss Aziza in ihre Arme. Das Kleidchen war feucht. Die Kleine hatte eingenässt.
Nach lautem Gepolter und stampfenden Schritten waren jetzt unten wieder Schläge zu hören; es klang, als würde ein Stück Fleisch weichgeklopft.
Laila schaukelte Aziza, bis es unten still wurde. Als sie die Haustür auf- und zugehen hörte, setzte sie Aziza auf dem Boden ab und trat ans Fenster. Sie sah, wie Raschid Mariam am Kragen durch den Hof zerrte. Mariam war barfüßig und in der Hüfte eingeknickt. Seine Hände waren blutverschmiert, wie auch ihr Gesicht, die Haare, ihr Nacken und der Rücken. Ihr Hemd war vorn aufgerissen.
»Verzeih mir, Mariam«, hauchte Laila weinend an die Scheibe.
Sie sah, wie er Mariam in den Schuppen stieß. Er ging hinterher und tauchte wenig später mit einem Hammer und mehreren langen Holzbrettern wieder auf. Dann schloss er die Doppeltür des Schuppens, zog einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Vorhängeschloss. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Tür verschlossen war, ging er auf die Rückseite des Schuppens und holte eine Leiter.