Er rollte sich auf den Rücken.
»Große Worte gefallen dir, nicht wahr? Wie wär’s mit diesem? Perspektive. Das ist, was ich hier versuche, nämlich dafür zu sorgen, dass du deine Perspektiven nicht aus den Augen verlierst.«
Was Laila in dieser Nacht um den Schlaf brachte, ja ihr sogar Brechreiz verursachte, war die Tatsache, dass sich nichts von dem, was Raschid gesagt hatte, von der Hand weisen ließ.
Am nächsten Morgen und den folgenden Tagen dauerte die Übelkeit an, verschlimmerte sich noch und wurde mit der Zeit zu einer ständigen Begleiterin.
Es war kalt und der Himmel wolkenverhangen, als Laila wenige Tage später kurz nach Mittag auf dem Boden ihres Schlafzimmers lag. Aziza und Mariam hielten ein Nickerchen in deren Zimmer.
In Lailas Hand steckte eine Speiche, die sie mit einer Kneifzange aus dem Laufrad eines kaputten Fahrrads herausgebrochen hatte. Es war in derselben Gasse abgestellt worden, in der sie vor Jahren den ersten Kuss mit Tarik ausgetauscht hatte. Lange Zeit lag Laila mit gespreizten Beinen und zusammengebissenen Zähnen auf dem Fußboden.
Aziza war ihr schon in dem Moment von Herzen willkommen gewesen, als sie eine erste Ahnung von ihrer Existenz gehabt hatte. Von den Selbstzweifeln und Ungewissheiten, die sie jetzt plagten, war damals nichts zu spüren gewesen. Wie schrecklich, dachte Laila, dass eine Mutter fürchten konnte, nicht genügend Liebe für das eigene Kind aufzubringen. Ein verstörender Gedanke. Und doch drängte sich ihr genau diese Frage auf, als sie da auf dem Boden lag und die Speiche mit schweißnassen Händen zu führen versuchte. Und sie zweifelte daran, Raschids Kind jemals so lieben zu können wie das von Tarik.
Am Ende brachte sie das, was sie vorgehabt hatte, nicht über sich.
Es war nicht die Angst davor, zu verbluten, die ihr die Speiche aus der Hand fallen ließ, auch nicht die Hemmung, eine Sünde zu begehen, was es ja wohl gewesen wäre. Laila ließ die Speiche fallen, weil sie nicht akzeptieren wollte, was für die Mudschaheddin offenbar nie ein Problem gewesen war, nämlich dass einem Krieg Unschuldige zum Opfer fielen. Laila führte Krieg gegen Raschid. Das Kind sollte darunter nicht leiden. Zu viele waren schon getötet worden, und Laila hatte im Kreuzfeuer der feindlichen Lager mehr als genug Unschuldige sterben sehen.
39
September 1997
»Frauen werden hier nicht mehr behandelt«, bellte der Wachbeamte. Er stand vor dem Portal der Malalai-Klinik und blickte mit eisiger Miene auf die Menge herab, die sich vor den Eingangsstufen versammelt hatte.
Unmut machte sich breit.
»Aber das ist doch ein Krankenhaus für Frauen«, empörte sich eine Frau, die hinter Mariam stand. Ihr stimmten viele lauthals zu.
Mariam hatte Aziza auf dem Arm und stützte mit der freien Hand Laila, die sich auf der anderen Seite an Raschids Schulter festhielt und leise vor sich hin jammerte.
»Jetzt nicht mehr«, sagte der Talib.
»Meine Frau bekommt ein Kind!«, brüllte ein stämmiger Mann. »Soll sie etwa auf der Straße gebären, Bruder?«
Mariam hatte schon im Januar dieses Jahres von der Verordnung gehört, wonach erkrankte Männer und Frauen auf getrennte Krankenhäuser zu verteilen seien und das weibliche Personal sämtlicher Krankenhäuser Kabuls in einer Zentralklinik für Frauen arbeiten werde. Allerdings war diese Verordnung nicht durchgeführt worden, und keiner hatte an ihre Umsetzung geglaubt. Bis jetzt.
»Und was ist mit dem Ali-abad-Hospital?«, rief ein anderer Mann.
Der Wachmann schüttelte den Kopf.
»Wazir Akbar Khan?«
»Nur für Männer«, sagte er.
»Was sollen wir tun?«
»Geht ins Rabia Balkhi«, sagte der Wachmann.
Eine junge Frau erklärte, dass sie schon dort gewesen sei. Es gebe dort kein sauberes Wasser, sagte sie, keinen Sauerstoff, keine Elektrizität, keine Medikamente. »Da gibt es nichts.«
»Nur da dürft ihr hin«, sagte der Wachmann.
Rufe der Empörung wurden laut; vereinzelt waren auch Beleidigungen zu hören. Jemand warf einen Stein.
Der Talib hob seine Kalaschnikow und feuerte in die Luft. Ein anderer, der hinter ihm stand, schwang eine Peitsche.
Die Menge löste sich schnell auf.
Der Wartesaal der Rabia-Balkhi-Klinik war übervoll von verhüllten Frauen und Kindern. Es stank nach Schweiß und Schmutz, nach Füßen, Desinfektionsmitteln, Urin und Zigarettenrauch. Unter der Decke drehte sich ein Ventilator. Kinder tobten umher und sprangen über die ausgestreckten Beine schlafender Väter.
Mariam half Laila auf einen freien Stuhl. Von der Wand hinter ihr war großflächig Putz abgebröckelt; sie sah aus wie eine Karte fremder Kontinente. Laila hielt sich den Bauch und schaukelte vor und zurück.
»Ich werde dafür sorgen, dass du gleich drankommst, Laila
jo.«
»Beeil dich«, sagte Raschid.
Vor dem Anmeldungsschalter drängte sich eine Traube von Frauen. Es wurde gerempelt und gestoßen. Einige hielten Säuglinge auf dem Arm. Andere befreiten sich aus der Menge und eilten auf die Doppeltür zu, die zu den Behandlungszimmern führte. Ein bewaffneter Talib versperrte ihnen den Weg und schickte sie zurück.
Mariam zwängte sich durch das Gewühl und schob die Hüften und Schultern der anderen mit Nachdruck beiseite. Ein Ellbogen traf ihre Rippen; sie wehrte sich auf gleiche Art. Sie parierte eine Hand, die auf ihr Gesicht zielte, zerrte an Armen, Kleidern und Haaren und ließ sich durch nichts und niemanden aufhalten, am allerwenigsten durch Worte.
Mariam erkannte nun, was eine Mutter aufopfern musste. Nicht zuletzt ihren Anstand. Voller Reue dachte sie an Nana, an das, was ihr aufgebürdet worden war. Nana hätte sie abgeben oder aussetzen und davonlaufen können. Aber sie hatte es nicht getan und stattdessen die Schande ertragen, einen harami zur Tochter zu haben. Sie hatte ihr Leben der undankbaren Aufgabe gewidmet, Mariam aufzuziehen, und sie sogar auf ihre Weise geliebt. Und am Ende war Mariam zu Jalil übergelaufen. Während sie sich nun mit wilder Entschlossenheit durch die Menge kämpfte, bedauerte sie es zutiefst, Nana keine bessere Tochter gewesen zu sein. Sie wünschte, sie hätte schon damals verstanden, was Mutterschaft bedeutete.
Endlich stand sie einer Schwester gegenüber, die von Kopf bis Fuß in eine schmutzige graue Burka gehüllt war. Die Schwester sprach mit einer jungen Frau, durch deren Verschleierung am Kopf Blut sickerte.
»Bei meiner Tochter ist die Fruchtwasserblase geplatzt, aber das Kind will nicht kommen«, rief Mariam.
»Ich bin zuerst dran!«, blaffte die blutende junge Frau. »Warte gefälligst, bis du an der Reihe bist.«
Die Menge hinter ihnen wogte hin und her wie das hohe Gras vor der kolba, wenn der Wind über die Lichtung fuhr. Eine Frau schrie, dass ihre Tochter vom Baum gefallen sei und sich den Ellbogen gebrochen habe. Eine andere klagte heulend über Blut im Stuhl.
»Hat sie Fieber?«, fragte die Schwester, und es dauerte einen Moment, ehe Mariam bemerkte, dass sie mit ihr sprach.
»Nein«, antwortete Mariam.
»Blutet sie?«
»Nein.«
»Wo ist sie?«
Mariam deutete über die Köpfe der Frauen hinweg auf den Wartesaal.
»Wir kümmern uns drum«, sagte die Schwester.