»Tatsächlich?« Jalil lächelte aufmunternd.
Zwei Wochen zuvor hatte er ihr auf ihr Drängen hin mitgeteilt, dass in seinem Kino ein amerikanischer Film gezeigt werde, ein besonderer Film, wie er erklärte, der nur aus Zeichnungen bestehe, aus Tausenden einzelner Zeichnungen, die, wenn man sie zu einem Film zusammenschneide und auf eine Leinwand projiziere, den Eindruck erweckten, als bewegten sie sich. Ein solcher Film werde Cartoon genannt. Dieser Cartoon, fuhr Jalil fort, erzähle die Geschichte eines alten, kinderlosen Erfinders, der sehr einsam sei und sich nichts sehnsüchtiger wünsche als einen Sohn. Also schnitzt er eine Puppe, einen hölzernen Jungen, der dann auf magische Weise zum Leben erwacht. Mariam hatte mehr von dieser Geschichte hören wollen und von Jalil erfahren, dass der alte Mann und seine Puppen jede Menge Abenteuer erlebten, dass es da einen Ort namens Pleasure Island gebe, wo böse Jungs in Esel verwandelt würden. Begeistert hatte Mariam Mullah Faizullah von diesem Film berichtet.
»Ich wünsche mir, dass du mich in dein Kino mitnimmst«, sagte Mariam nun. »Dass ich den Cartoon sehe und den hölzernen Jungen.«
Mariam spürte, wie sich schlagartig die Stimmung änderte. Ihre Eltern rutschten auf ihren Stühlen hin und her und tauschten irritierte Blicke.
»Das ist keine gute Idee«, sagte Nana. Ihre Stimme klang ruhig und beherrscht, wie immer, wenn Jalil zugegen war, doch ihre Miene verriet etwas anderes.
Jalil hustete und räusperte sich.
»Weißt du«, sagte er, »die Bildqualität ist ziemlich schlecht, so auch der Ton, und der Projektor hat in letzter Zeit seine Macken. Vielleicht hat deine Mutter recht. Vielleicht solltest du dir etwas anderes wünschen, Mariam jo.«
»Aneh«, bemerkte Nana. »Siehst du? Dein Vater und ich sind einer Meinung.«
Später am Fluss sagte Mariam: »Nimm mich mit.«
»Hör zu«, entgegnete er. »Ich sorge dafür, dass dich jemand abholt und mit dir ins Kino geht. Da wird man dir einen guten Platz freihalten und so viel Süßigkeiten bringen, wie du willst.«
»Nein. Ich will mit dir ins Kino gehen.«
»Mariam jo…«
»Und ich will, dass auch meine Brüder und Schwestern da sind. Ich möchte sie kennenlernen. Wir sehen uns alle zusammen den Film an. Das ist es, was ich mir wünsche.«
Jalil seufzte. Er wich ihrem Blick aus und schaute in Richtung Berge.
Mariam erinnerte sich, von ihm erfahren zu haben, dass auf einer Leinwand das Gesicht eines Menschen so groß erscheine wie ein Haus, dass, wenn darauf ein Autounfall zu sehen sei, der Zuschauer bis in die Knochen spüre, wie sich das Blech zerknautsche. Sie malte sich aus, neben Jalil und ihren Geschwistern auf einem der Logenplätze zu sitzen und an einem Stieleis zu lecken. »Das ist es, was ich mir wünsche«, sagte sie.
Jalil sah sie traurig an.
»Morgen. Morgen Mittag. Wir treffen uns hier, an dieser Stelle. In Ordnung? Morgen Mittag?«
»Komm her«, sagte er. Er kauerte sich auf den Boden, nahm sie in den Arm und drückte sie an sich.
Nana hatte die Hände zu Fäusten geballt und stampfte mit dem Fuß auf.
»Warum hat mich Gott bloß mit einer so undankbaren Tochter gestraft? Was habe ich nicht alles für dich erlitten? Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen, mich im Stich zu lassen, du verräterischer kleiner harami!«
Dann versuchte sie es mit Spott.
»Dummes Ding! Bildest du dir etwa ein, ihm etwas zu bedeuten, in seinem Haus willkommen zu sein? Dass er dich als seine Tochter bei sich aufnimmt? Lass dir eins gesagt sein: Das Herz eines Mannes ist verkommen, Mariam. Im Unterschied zum Mutterschoß blutet es nicht, und es dehnt sich auch nicht aus, um Platz für ein Lebewesen wie dich darin zu machen. Ich bin die Einzige, die dich liebt. Ich bin alles, was du auf dieser Welt hast, Mariam, und wenn ich gegangen bin, wirst du nichts haben. Rein gar nichts. Du bist ein Nichts!«
Schließlich versuchte sie, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.
»Ich sterbe, wenn du gehst. Der Dschinn wird in mich fahren. Ich werde einen Anfall bekommen, werde meine Zunge verschlucken und daran ersticken. Verlass mich nicht, Mariam jo. Bitte bleib. Ich sterbe, wenn du gehst.«
Mariam schwieg.
»Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Mariam jo.«
Mariam sagte, sie wolle einen Spaziergang machen.
Sie fürchtete, wenn sie bliebe, die Mutter mit Worten verletzen zu können, denn sie hätte am liebsten gesagt, dass die Geschichte mit dem Dschinn erlogen war, dass ihre Krankheit, wie sie von Jalil wusste, einen Namen hatte und mithilfe von Pillen gelindert werden konnte. Sie hätte Nana womöglich gefragt, warum sie sich weigerte, Jalils Rat zu befolgen und seine Ärzte aufzusuchen. Warum sie nicht die Pillen nahm, die er ihr mitgebracht hatte. Wenn es Mariam möglich gewesen wäre, ihre Gefühle in Worten auszudrücken, hätte sie vielleicht sogar gesagt, dass sie es leid war, benutzt zu werden, die verdrehten Wahrheiten ihrer Mutter hören zu müssen und, als Alibi missbraucht, für ihren Groll gegen die Welt herhalten zu müssen.
Du hast Angst, Nana, hätte sie womöglich gesagt. Du hast Angst, dass ich das Glück finden könnte, das dir versagt geblieben ist. Und du willst nicht, dass ich glücklich bin. Du gönnst mir kein gutes Leben. Du bist von uns beiden diejenige mit dem verkommenen Herzen.
Am Rand der Lichtung gab es einen Aussichtspunkt, den Mariam gern aufsuchte. Dort setzte sie sich auch jetzt ins warme trockene Gras. Wie ein Brettspiel breitete sich Herat in der Ferne aus: der Frauengarten im Norden der Stadt; im Süden der Char-suq-Basar und die Ruinen der alten Zitadelle von Alexander dem Großen. Wie die verstaubten Finger eines Riesen ragten die Minarette in den Himmel, und in den Straßen stellte sie sich ein Gewimmel von Menschen, Karren und Maultieren vor. Über ihr schwirrten Schwalben durch die Luft. Sie beneidete die Vögel. Die waren schon in Herat gewesen, über seine Moscheen und Basare gesegelt. Vielleicht hatten sie sich schon einmal auf den Mauern von Jalils Haus oder auf den Eingangsstufen seines Kinos niedergelassen.
Sie sammelte zehn Kieselsteine auf und ordnete sie in drei senkrechte Reihen. Mit diesem Spiel beschäftigte sie sich manchmal heimlich, wenn Nana nicht zuschaute. Die vier Steine in der ersten Reihe standen für Khadijas Kinder, die drei in der zweiten für Afsoons und die drei in der dritten für Nargis’ Kinder. Dann fügte sie den drei Reihen eine vierte hinzu. Einen einzigen, elften Kieselstein.
Am nächsten Morgen trug Mariam ein cremefarbenes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte, darunter eine Leinenhose. Den Kopf bedeckte sie mit einer grünen hijab, was sie ein wenig grämte, weil die Farbe nicht zum Kleid passte. Aber sie musste sich damit begnügen — die weiße hijab war von Motten zerfressen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, eine alte Uhr zum Aufziehen, mit schwarzen Ziffern auf minzegrünem Grund, ein Geschenk von Mullah Faizullah. Es war neun Uhr. Sie fragte sich, wo Nana sei, und wähnte sie draußen vor der Tür, wagte es aber nicht, ihren gekränkten Blicken zu begegnen. Nana würde sie eine Verräterin schimpfen und sich über die törichten Wünsche der Tochter lustig machen.
Um sich die Zeit zu vertreiben, setzte sich Mariam an den Tisch und versuchte, einen Elefanten zu zeichnen, so wie Jalil es ihr gezeigt hatte, mit einem einzigen Strich. Immer und immer wieder. Vom langen Sitzen schmerzte ihr Rücken, doch um das Kleid nicht zu zerknittern, verzichtete sie darauf, sich auszustrecken.
Als die Zeiger schließlich auf halb elf standen, steckte Mariam ihre elf Kieselsteine ein und ging nach draußen. Auf dem Weg zum Fluss sah sie Nana unter dem gewölbten Laubdach der Trauerweide auf einem Stuhl sitzen. Es war nicht zu erkennen, ob ihre Mutter sie im Auge hatte oder nicht.