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»Wann?«, rief Mariam. Jemand packte sie bei den Schultern und zerrte sie zurück.

»Ich weiß nicht«, antwortete die Schwester. Sie sagte, dass nur zwei Ärzte Dienst hätten und beide zurzeit operierten.

»Sie hat Schmerzen«, drängte Mariam.

»Ich auch«, blaffte die Frau, die durch ihre Burka blutete. »Und du hast zu warten!«

Mariam wurde zurückgezerrt. Schultern und Köpfe versperrten ihr den Blick auf die Schwester. Ein Säugling, der unmittelbar neben ihr im Arm seiner Mutter hing, stieß Milch auf.

»Gehen Sie mit ihr im Gang auf und ab«, rief die Schwester. »Und gedulden Sie sich.«

Draußen war es schon dunkel geworden, als endlich eine Schwester kam und sie in den Kreißsaal führte. Darin standen acht Betten, bis auf eines alle belegt von schreienden und sich windenden Frauen, um die sich vollständig verschleierte Schwestern kümmerten. Zwei Frauen kamen gerade nieder. Es gab keine Vorhänge zwischen den Betten. Für Laila war das Bett am äußeren Rand frei gemacht worden; es stand unter einem schwarz lackierten Fenster. Daneben befand sich ein trockenes und an mehreren Stellen aufgesprungenes Waschbecken, über dem an einer Wäscheleine schmutzige Gummihandschuhe hingen. In der Mitte des Raumes sah Mariam einen Regaltisch aus Aluminium stehen; auf der oberen Ablage lag eine anthrazitfarbene Decke, das untere Fach war leer.

Eine der Frauen bemerkte, worauf Mariams Blick gerichtet war.

»Die Lebenden kommen nach oben«, sagte sie.

Unter einer dunkelblauen Burka verbarg sich die Ärztin, eine kleine nervöse Frau mit vogelartigen Bewegungen. Alles, was sie sagte, klang gehetzt und ungeduldig.

»Das erste Baby?«, fragte sie im Tonfall einer Feststellung.

»Das zweite«, antwortete Mariam.

Laila stieß einen Schrei aus und wälzte sich zur Seite. Ihre Finger schlossen sich um Mariams Hand.

»Gab’s Probleme bei der ersten Geburt?«

»Nein.«

»Sind Sie ihre Mutter?«

»Ja«, antwortete Mariam.

Die Ärztin lüftete das Unterteil der Burka und brachte ein trichterförmiges Instrument aus Metall zum Vorschein. Dann entblößte sie Lailas Unterleib, legte das weite Ende des Instruments auf ihren Bauch und führte das schmale Ende ans Ohr. Sie lauschte eine Weile, verrückte den Trichter an eine andere Stelle und lauschte wieder.

»Ich muss das Kind jetzt ertasten, hamshira.«

Sie zog sich einen der Gummihandschuhe an, die über dem Waschbecken hingen, drückte dann mit der einen Hand auf Lailas Bauch und fuhr ihr mit der anderen in die Scheide. Laila wimmerte. Als die Ärztin fertig war, gab sie den Handschuh einer Schwester, die ihn unter dem Wasserhahn abwusch und wieder auf die Leine hängte.

»Das Kind ist in Steißlage. Wir müssen einen Kaiserschnitt machen. Wissen Sie, was das ist? Wir setzen einen Schnitt an und holen das Kind heraus.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Mariam.

Die Ärztin erklärte, dass das Kind sich nicht gedreht habe und von allein nicht kommen könne. »Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren und müssen jetzt sofort in den OP.«

Laila verzog das Gesicht und nickte. Ihr Kopf fiel zur Seite.

»Noch etwas«, sagte die Ärztin und rückte näher an Mariam heran, um ihr etwas mitzuteilen, etwas Vertrauliches, wie es schien. Sie machte einen leicht verlegenen Eindruck.

»Was ist los?«, krächzte Laila. »Stimmt was nicht mit dem Baby?«

»Aber wie soll sie die Schmerzen aushalten?«, fragte Mariam.

Der Ärztin schien die Frage als Vorwurf zu verstehen, denn ihre Antwort klang wie eine Entschuldigung. »Glauben Sie etwa, mir ist das recht?«, sagte sie. »Was soll ich tun? Man gibt mir nun einmal nicht, was ich brauche. Und es fehlt hier an allem, sogar an einfachen Antibiotika. Die Gelder der WHO stecken sich die Taliban ein, oder es fließt an Stellen, wo es ausschließlich Männern zugute kommt.«

»Aber, Doktor sabib, gibt es da nichts, was Sie ihr geben könnten?«, fragte Mariam.

»Was ist los?«, stöhnte Laila.

»Sie könnten das Mittel aus eigener Tasche bezahlen, aber…«

»Schreiben Sie mir bitte den Namen auf«, sagte Mariam. »Schreiben Sie ihn auf, und ich besorge es.«

Unter der Burka schüttelte die Ärztin den Kopf. »Dazu bleibt keine Zeit mehr«, sagte sie. »Außerdem ist das Mittel in keiner der umliegenden Apotheken zu haben. Sie müssten durch die halbe Stadt fahren, und das bei dem Verkehr, von Apotheke zu Apotheke, wo Sie aber wahrscheinlich auch nichts bekommen werden. Es ist gleich halb neun, das heißt, Sie wären bis zur Sperrstunde nicht zurück. Und selbst wenn Sie das Mittel irgendwo auftreiben könnten, würden Sie es wahrscheinlich nicht bezahlen können. Oder es sind andere Kunden da, die, ebenso verzweifelt wie Sie, versuchen werden, Sie zu überbieten. Wie dem auch sei, die Zeit drängt. Das Kind muss sofort geholt werden.«

»Sagt mir endlich, was ist«, verlangte Laila. Sie hatte sich, auf einen Ellbogen gestützt, aufgerichtet.

Die Ärztin holte tief Luft und klärte Laila darüber auf, dass dem Krankenhaus keine Betäubungsmittel zur Verfügung stünden.

»Aber wenn wir uns jetzt nicht beeilen, werden Sie Ihr Kind verlieren.«

»Dann schneiden Sie mich auf«, sagte Laila. Sie ließ sich aufs Bett zurückfallen und zog die Knie an. »Schneiden Sie mich auf und geben Sie mir mein Baby.«

Zitternd lag Laila in dem armseligen OP-Saal auf einer rollbaren Trage, während sich die Ärztin über einer Wasserschüssel die Hände schrubbte. Eine Schwester rieb Lailas Bauch mit einem Lappen ab, der mit einer gelbbraunen Flüssigkeit getränkt war. Eine andere Schwester stand neben der Tür, die sie immer wieder einen Spaltbreit öffnete, um nach draußen zu spähen.

Die Ärztin hatte ihre Burka abgelegt. Mariam sah einen Schopf silbriger Haare, schwere Augenlider und schlaffe Mundwinkel, die von Müdigkeit zeugten.

»Sie verlangen, dass wir selbst beim Operieren eine Burka tragen«, erklärte sie und deutete auf die Schwester an der Tür. »Sie passt auf, dass keiner kommt, und schlägt gegebenenfalls Alarm.«

Sie sagte dies ganz nüchtern und wie beiläufig, und Mariam spürte, dass sie längst alle Wut hinter sich gelassen hatte. Eine Frau, so dachte sie, die noch froh darüber sein konnte, dass sie überhaupt arbeiten durfte, sich gleichzeitig aber darüber im Klaren war, dass auch dieses Privileg auf dem Spiel stand.

An der Trage waren auf Schulterhöhe zwei aufrechte Metallstangen angebracht, zwischen die nun die Schwester, die Laila den Bauch desinfiziert hatte, ein Tuch spannte, das eine Art Vorhang zwischen Laila und der Ärztin bildete.

Mariam stellte sich ans Kopfende der Trage und beugte sich tief herab, um ihre Wange an Lailas Wange zu legen. Sie spürte, wie ihr die Zähne klapperten. Die Hände der beiden waren fest ineinander verschränkt.

Durch den Vorhang sah Mariam den Schatten der Ärztin auf der linken, den der Schwester auf der rechten Seite. Laila hatte ihre Lippen gegen das Zahnfleisch gepresst; der Speichel drang in Blasen zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie gab kleine Zischlaute von sich.

Die Ärztin sagte: »Fassen Sie sich ein Herz, kleine Schwester.«

Sie beugte sich über Laila.

Laila riss Augen und Mund auf. Sie verkrampfte, zitterte am ganzen Leib. Die Sehnen am Hals waren zum Zerreißen gespannt. Schweiß tropfte ihr vom Gesicht. Ihre Hände quetschten Mariams Finger.

Mariam sollte sie für immer dafür bewundern, wie tapfer sie aushielt und wie lange es dauerte, bevor sie nicht mehr anders konnte als zu schreien.

40

Laila

Herbst 1999

Das Loch zu graben ging auf Mariams Vorschlag zurück. Eines Morgens zeigte sie auf eine Stelle hinter dem Werkzeugschuppen. »Da wär’s gut«, sagte sie. »Versuchen wir’s.«