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Sie wechselten sich dabei ab, den Boden mit einem Spaten zu lockern und die lose Erde beiseitezuschaufeln. Es sollte kein großes oder tiefes Loch werden, und doch kostete die Arbeit mehr Kraft als gedacht. Seit 1998 herrschte Dürre, nun schon im zweiten Jahr und mit verheerenden Auswirkungen für das ganze Land. Im vergangenen Winter hatte es kaum geschneit, und während des Frühlings war kein Tropfen Regen gefallen. Überall in Afghanistan waren Bauern gezwungen, ihr Hab und Gut zu verkaufen, ihre ausgetrockneten Felder zu verlassen und auf der Suche nach Wasser von Dorf zu Dorf zu ziehen. Sie wanderten nach Pakistan aus oder in den Iran. Viele versuchten, in Kabul Fuß zu fassen. Aber auch dort waren die Wasservorräte fast aufgebraucht und alle weniger tiefen Brunnen versiegt. Vor den tiefen Brunnen standen Laila und Mariam oft stundenlang Schlange, bis sie endlich an die Reihe kamen und Wasser schöpfen konnten. Das Flussbett des Kabul war knochentrocken, voller Unrat und Abfall.

Und so mühten sie sich mit dem Spaten ab, denn der von der Sonne gebackene Boden war wie versteinert.

Mariam war in diesem Jahr vierzig geworden. Das über der Stirn aufgerollte Haar zeigte graue Strähnen. Unter den Augen hing die Haut in braunen halbmondförmigen Falten herab. Zwei Schneidezähne fehlten; der eine war von allein ausgefallen, der andere von Raschid herausgeschlagen worden, nachdem sie Zalmai aus Versehen fallen gelassen hatte. Ihre Haut war wie gegerbt von den vielen Stunden unter glühender Sonne im Hof, wo sie Zalmai und Aziza beim Spielen beaufsichtigte.

»Das müsste reichen«, sagte Mariam, als ihr das Loch tief genug erschien. Die beiden Frauen traten zurück und betrachteten ihr Werk.

Zalmai war jetzt zwei, ein strammer kleiner Junge mit lockigem Haar. Er hatte wie Raschid braune Augen, und seine Wangen waren immer rosig, bei jedem Wetter. Auch den tiefen, wie abgezirkelten Haaransatz hatte er von seinem Vater.

Allein mit seiner Mutter, war Zalmai freundlich und verspielt. Er liebte es, auf ihre Schultern zu klettern oder mit Aziza im Hof Verstecken zu spielen, auch stieg er gern auf Lailas Schoß und ließ sich etwas von ihr vorsingen. Sein Lieblingslied war »Mullah Mohammad jan«. Wenn sie ihm die Verse ins Ohr sang, wippte er mit den runden kleinen Füßen im Takt und stimmte in den Refrain mit seiner heiseren Stimme ein.

Komm und lass uns nach Mazar gehn, Mullah Mohammad jan, die Tulpenfelder dort zu sehn, mein lieber kleiner Kumpan.

Laila liebte Zalmais feuchte Küsse auf ihren Wangen, die Grübchen an den Ellbogen und seine kräftigen kleinen Zehen. Sie liebte es, ihn zu kitzeln, aus Kisten und Polstern Höhlengänge zu bauen, durch die er dann zu krabbeln versuchte, oder ihn in den Armen zu wiegen, bis er einschlief, wobei er immer eins ihrer Ohren mit der Hand gefasst hielt. Ihr wurde schlecht, wenn sie an jenen Nachmittag zurückdachte, als sie mit der Fahrradspeiche zwischen den Beinen am Boden gelegen hatte. Es war für sie nicht mehr nachzuvollziehen, dass sie eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Sie sah in ihrem Sohn ein Geschenk und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass ihre Sorgen unbegründet waren, denn sie liebte ihn von ganzem Herzen, genauso sehr wie Aziza.

Vor allem aber hing Zalmai an seinem Vater, und wenn Raschid ihn verwöhnte, war der Kleine wie ausgewechselt. In Raschids Gegenwart verhielt er sich trotzig und eigensinnig; er war dann auch schnell beleidigt, bockig und ließ sich von Laila nichts sagen.

Raschid hatte Gefallen daran. »Der Junge beweist Intelligenz«, sagte er und klatschte auch Beifall, wenn Zalmai übermütig wurde, Murmeln verschluckte, mit Streichhölzern spielte und an Raschids Zigarettenstummeln lutschte.

Als Zalmai zur Welt gekommen war, hatte Raschid darauf bestanden, dass er im Bett seiner Eltern schlief. Später hatte er ihm eine neue Wiege gekauft, deren Seiten mit Bildern von Löwen und kauernden Leoparden bemalt waren. Er kaufte auch neue Kleidung, Rasseln, neue Flaschen und neue Windeln, obwohl sie sich diese Ausgaben nicht leisten konnten und die alten Sachen von Aziza durchaus genügt hätten. Eines Tages kam er nach Hause und hängte ein batteriebetriebenes Mobile über Zalmais Wiege — eine Plastiksonnenblume, um die kleine schwarz-gelbe Hummeln schwirrten, die quietschten, wenn man sie drückte. Dazu erklang eine Melodie.

»Ich dachte, die Geschäfte gehen nicht gut«, sagte Laila.

»Ich habe Freunde, von denen ich mir Geld leihen kann«, entgegnete er unwirsch.

»Wie willst du die Schulden jemals begleichen?«

»Es kommen auch wieder andere Zeiten. Ihm gefällt’s. Siehst du?«

Tagsüber musste Laila meist auf ihren Sohn verzichten. Raschid nahm ihn mit in seinen Laden, wo er ihn über die Werkbank krabbeln und mit alten Gummisohlen oder Lederresten spielen ließ. Während er Absätze festnagelte oder an der Schleifmaschine arbeitete, behielt er seinen Sohn immer im Blick. Wenn Zalmai ein Schuhregal zum Kippen brachte, erteilte ihm Raschid eine freundliche Rüge und lächelte dabei. Wenn er es wieder tat, legte Raschid den Hammer aus der Hand, setzte ihn auf die Werkbank und versuchte, vernünftig auf ihn einzureden.

Seine Geduld, die er Zalmai entgegenbrachte, war ein tiefer Brunnen, der nie austrocknete.

Wenn sie am Abend zurückkehrten, thronte Zalmai auf seinen Schultern und wackelte mit dem Kopf. Beide rochen nach Leim und Leder. Sie schmunzelten verschlagen, als hätten sie, anstatt Schuhe zu flicken, den ganzen Tag geheime Pläne geschmiedet. Zalmai saß beim Abendessen immer neben seinem Vater. Die beiden neckten sich, während Mariam, Laila und Aziza die Teller auf der sofrah verteilten. Sie stupsten einander mit ausgestreckten Fingern an, bewarfen sich mit Brotkrumen, kicherten und tuschelten miteinander. Wenn Laila ein Wort an sie richtete, zeigte sich Raschid über ihre Einmischung verärgert. Wenn sie darum bat, Zalmai auf den Arm nehmen zu dürfen — oder schlimmer noch, wenn Zalmai von sich aus zu ihr wollte —, verfinsterte sich Raschids Miene.

Laila verspürte dann jedes Mal einen Stich und zog sich zurück.

Eines Abends, wenige Wochen nach Zalmais drittem Geburtstag, kam Raschid mit einem Fernsehgerät und einem Videorekorder nach Hause zurück. Es war ein milder Tag gewesen, doch zum Abend hatte es merklich abgekühlt, und die Nacht versprach, kalt zu werden.

Er stellte seine Errungenschaften auf dem Wohnzimmertisch ab und sagte, dass er sie auf dem Schwarzmarkt erstanden habe.

»Wieder mit geborgtem Geld?«, fragte Laila.

»Das ist ein Magnavox.«

Aziza kam ins Zimmer. Als sie den Fernseher sah, lief sie darauf zu.

»Vorsicht, Aziza jo«, sagte Mariam. »Nicht berühren.«

Azizas Haar war inzwischen so hell wie das ihrer Mutter, und in den Grübchen auf ihren Wangen erkannte Laila ihre eigenen wieder. Aziza hatte sich zu einem ruhigen, nachdenklichen kleinen Mädchen gemausert und legte ein Verhalten an den Tag, das, wie Laila fand, sehr viel reifer war, als man es von einem sechsjährigen Kind erwarten konnte. Laila staunte über die Sprachfertigkeit ihrer Tochter, über Tonfall und Wortwahl, über die besonnenen Pausen und Hebungen. Sie klang so erwachsen, dass der kleine Körper gar nicht so recht zu ihr zu passen schien. Aziza hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Zalmai morgens aufzuwecken, anzuziehen, zu füttern und zu kämmen. Sie war es, die das quirlige Kerlchen mit Gleichmut und gespielter Autorität im Zaum hielt und ihn mittags schlafen legte, und wenn er es allzu toll trieb, sah man sie wie eine entnervte Erwachsene auf drollige Weise die Augen verdrehen.

Aziza drückte auf den Einschaltknopf des Fernsehers. Raschid kniff die Brauen zusammen und packte sie unsanft beim Handgelenk.