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»Das ist Zalmais Apparat«, sagte er.

Aziza lief auf Mariam zu und kletterte auf ihren Schoß. Die beiden waren längst unzertrennlich. Vor kurzem hatte Mariam mit Lailas Einverständnis damit begonnen, Aziza Verse aus dem Koran beizubringen. Die Kleine konnte bereits die Suren al-fatiha und al-Ikhlas auswendig aufsagen und wusste, wie die vier Rakat des Morgengebets vorzutragen waren.

»Das ist alles, was ich ihr geben kann«, hatte Mariam gesagt, »dieses Wissen, diese Gebete. Sie sind das Einzige, was ich je besessen habe.«

Jetzt kam Zalmai ins Zimmer. Raschid schaute ihm erwartungsvoll dabei zu, wie er am Kabel zog, auf die Schalter tippte und seine Hände an den Bildschirm drückte. Als er sie wieder entfernte, blieben kleine Kondensflecken auf der Scheibe zurück, die sich allmählich auflösten. Davon offenbar fasziniert, patschte er nun immer wieder auf den Bildschirm. Raschid strahlte übers ganze Gesicht, und man hätte meinen können, er bestaunte die Tricks eines Zauberkünstlers.

Die Taliban hatten den Besitz von Fernsehgeräten verboten. Videokassetten waren in der Öffentlichkeit demonstrativ zerschlagen, die Bänder herausgerissen und um Zaunpfosten gewickelt worden. Satellitenschüsseln baumelten wie Gehenkte an Straßenlaternen. Doch Raschid meinte, dass Verbotenes nicht aus der Welt sei und durchaus aufgetrieben werden könne.

»Morgen werde ich mich nach Zeichentrickfilmen umschauen«, verkündete er. »Auch das dürfte nicht allzu schwer sein. In den Untergrundbasaren ist alles zu kaufen.«

»Dann solltest du uns vielleicht einen neuen Brunnen besorgen«, sagte Laila, was Raschid mit einem finsteren Blick quittierte.

Ein paar Tage später, nach einem Abendessen, das wieder nur aus weißem Reis bestand und der anhaltenden Dürre wegen ohne Tee auskommen musste, teilte Raschid Laila mit, wozu er sich entschieden hatte.

»Kommt nicht in Frage«, sagte Laila.

Sein Entschluss stehe nicht zur Debatte, entgegnete er.

»Ist mir egal.«

»Das wäre es nicht, wenn du die ganze Geschichte kennen würdest.«

Er erklärte, dass er erneut Freunde habe anpumpen müssen, weil die Einkünfte aus dem Geschäft für den Unterhalt der Familie nicht länger ausreichten. »Ich wollte dich nicht beunruhigen. Darum hab ich’s nicht schon früher gesagt.«

»Und außerdem«, fügte er hinzu, »es wird dich überraschen, was da an Geld zusammenkommt.«

Laila bekräftigte ihr Nein. Sie waren im Wohnzimmer, Mariam und die Kinder in der Küche. Sie hörte Geschirr klappern, Zalmais schrilles Lachen und Aziza, die in ihrer ruhigen, vernünftigen Stimme Worte an Mariam richtete.

»Sie wäre beileibe nicht die Einzige, nicht einmal die Jüngste«, sagte Raschid. »Kabul ist voll davon.«

Laila erwiderte, ihr sei einerlei, was andere Eltern ihren Kindern zumuteten.

»Ich werde sie im Auge behalten«, sagte Raschid, merklich gereizt. »Die Stelle, die ich mir ausgesucht habe, ist sicher. Auf der anderen Straßenseite steht eine Moschee.«

»Ich werde nicht zulassen, dass du aus meiner Tochter eine Bettlerin machst«, sagte Laila.

Seine Pranke traf sie laut schallend im Gesicht und so wuchtig, dass ihr der Kopf herumschleuderte. Die Geräusche in der Küche verstummten, und für einen Moment lang war es im Haus vollkommen still. Dann waren hastige Schritte im Flur zu hören. Mariam und die Kinder kamen ins Wohnzimmer geeilt. Ihre ängstlichen Blicke flogen zwischen Raschid und Laila hin und her.

Laila schlug zurück.

Es war das erste Mal, dass sie die Hand gegen einen anderen erhob, abgesehen von den Kabbeleien mit Tarik, die aber eher schüchtern und freundschaftlich ausgetragen worden waren, mit einem Knuff oder Klaps als Ausdruck ihrer sowohl irritierend als auch spannend empfundenen Befangenheit. Sie hatte damals immer auf den Muskel gezielt, den Tarik neunmalklug als Deltoid bezeichnete.

Laila spürte jetzt, wie ihre geballte Faust auf Raschids stoppeligem Kinn auftraf. Es klang, als wäre ein Reisbeutel zu Boden gefallen. Sie hatte so hart zugeschlagen, dass Raschid ins Wanken geriet und zurücktaumelte.

In der anderen Ecke des Zimmers wurden Schreie laut. Wer sie ausstieß, hörte Laila nicht. Sie war zu perplex, um darauf zu achten, und schien abzuwarten, ob ihr Verstand realisierte, was sich gerade zugetragen hatte. Als er es tat, war ihr zum Lachen zumute, und sie musste unwillkürlich schmunzeln, als Raschid zu ihrer Verwunderung wortlos den Raum verließ.

Plötzlich war ihr, als fiele alle Not, die sie selbst und im Mitgefühl für Aziza und Mariam erleiden musste, von ihr ab, als löste sie sich auf wie Zalmais Fingerabdrücke auf dem Fernsehschirm. So absurd es auch scheinen mochte, fühlte sie sich doch in diesem Moment des Aufbegehrens entschädigt dafür, dass sie Raschids entwürdigende Zumutungen so lange ertragen hatte.

Dass Raschid ins Zimmer zurückgekehrt war, bemerkte sie erst, als er ihr die fleischigen Hände um den Hals geschlungen hatte. Er stemmte sie in die Höhe und stieß sie mit dem Rücken an die Wand.

Aus nächster Nähe erschien ihr sein Gesicht unmöglich groß. Ihr fiel auf, dass es mit den Jahren aufgedunsen war. Das Aderngeflecht auf der Nase hatte sich ausgeweitet. Raschid sagte nichts. Worte erübrigten sich.

Die Razzien waren der Grund für das ausgehobene Loch hinterm Schuppen. Hatte man vor kurzem noch allenfalls ein- oder zweimal im Monat mit ihnen rechnen müssen, kamen die Taliban in jüngster Zeit fast täglich. Sie konfiszierten nach Belieben, versetzten Fußtritte, teilten Hiebe aus. Häufig zerrten sie ihre Opfer auch auf die Straße, um ihnen in aller Öffentlichkeit Fußsohlen und Handflächen auszupeitschen.

»Vorsichtig«, sagte Mariam, die am Rand der Grube kniete. Gemeinsam senkten sie den mit einer Plastikfolie umwickelten Fernseher ins Loch.

»Gut so«, sagte Mariam.

Sie füllten das Loch auf, stampften den Boden mit den Füßen fest und verwischten verräterische Spuren.

»Das wär’s.« Mariam wischte sich die Hände am Kleid ab.

Wenn die Taliban ihre Razzien einstellten, würden sie, so war es verabredet, das Gerät wieder ausgraben. Doch darüber mochten noch Monate vergehen.

Laila träumte, mit Mariam hinter dem Schuppen wieder eine Grube auszuheben. Doch diesmal wird Aziza vergraben, deren Atem die Kunststofffolie beschlägt, in die sie eingewickelt ist. Laila sieht die Panik in den Augen ihrer Tochter, die weißen Handflächen, die sich von innen an die Folie pressen. Aziza schreit. Laila kann sie nicht hören. »Nur für eine Weile« ruft sie ihr zu, »es ist nur für eine Weile. Wegen der Razzien, verstehst du, mein Liebes? Wenn die vorüber sind, werden dich Mami und Khala Mariam wieder ausgraben. Das verspreche ich dir. Und dann spielen wir wieder miteinander. Wir spielen, was du willst.« Sie schaufelt Erde ins Loch.

Schweißüberströmt wachte Laila auf, den Geschmack von Staub auf der Zunge.

41

Mariam

Die Dürre ging ins dritte Jahr und erreichte im Sommer 2000 ihren Höhepunkt.

Die Bewohner der Provinzen Helmand, Zabol und Kandahar hatten ihre Höfe verlassen und nomadisierten auf der Suche nach Wasser und grünen Weiden für ihr Vieh. Als dann ihre Ziegen, Schafe und Kühe verdursteten, kamen sie nach Kabul. An den Hängen des Kareh-Ariana entstanden Slums, wo sich meist fünfzehn bis zwanzig Menschen eine der provisorischen Hütten teilten.

Es war auch der Sommer, in dem das Spielfilmdrama Titanic im Fernsehen gezeigt wurde. Aziza war so angetan davon, dass sie immer wieder Szenen nachzuspielen versuchte, und zwar stets in der Rolle des Jack Dawson.

»Sei leise, Aziza jo.«