»Jack! Sag meinen Namen, Khala Mariam. Sag ihn. Jack!«
»Dein Vater wird böse sein, wenn du ihn weckst.«
»Jack, und du bist Rose.«
Mariam musste sich geschlagen geben und einverstanden erklären. »Schön, du bist Jack«, sagte sie, rücklings auf dem Boden liegend. »Das heißt aber auch, dass du schon in jungen Jahren stirbst und ich uralt werde.«
»Ja, aber ich sterbe als Held«, erwiderte Aziza, »während du dich, Rose, dein ganzes trauriges Leben lang nach mir sehnst.« Sie hockte sich rittlings auf Mariams Brust und verkündete: »Jetzt müssen wir uns küssen.« Mariam warf den Kopf hin und her, und Aziza, begeistert von ihrer skandalösen Bravour, prustete mit geschürzten Lippen.
Manchmal kam Zalmai dazu, beobachtete die beiden bei ihrem Spiel und verlangte auch eine Rolle für sich.
»Du bist der Eisberg«, sagte Aziza.
In jenem Sommer wurde ganz Kabul vom Titanic-Fieber gepackt. Aus Pakistan wurden Raubkopien ins Land geschmuggelt — häufig versteckt in der Unterwäsche. Zur Sperrstunde waren allerorts die Türen verriegelt, Lichter ausgeschaltet und Taschentücher für die Tränen gezückt, die dann um Jack, Rose und die anderen Passagiere des untergehenden Schiffes vergossen wurden. Wenn es Strom gab, konnten auch Mariam und Laila nicht widerstehen. An die Dutzend Male holten sie das Fernsehgerät spät in der Nacht aus dem Versteck hinterm Schuppen, löschten die Lichter, verhängten die Fenster und schauten sich mit den Kindern den Film an.
Im ausgetrockneten Flussbett des Kabul fanden sich bald fliegende Händler ein, die aus ihren Karren Teppiche und Stoffe mit Titanic-Dekors zum Kauf anboten. Es gab auch Titanic-Deodorants, Titanic-Zahnpasta, Titanic-Parfüm, Titanic-pakoras und sogar Titanic-Burkas. Ein besonders hartnäckiger Bettler bezeichnete sich selbst als Titanic-Bittsteller.
Titanic City war geboren.
»Es ist wegen der Musik«, sagten viele.
»Nein, das Meer. Der Luxus. Das Schiff.«
»Die Sexszenen«, flüsterten manche.
»Leo«, meinte Aziza freimütig. »Es ist vor allem wegen Leo.«
»Alle wollen Jack«, sagte Laila zu Mariam. »Darum geht’s. Alle wollen von Jack vor der Katastrophe gerettet werden. Aber es gibt keinen Jack. Jack ist tot.«
Im Spätsommer schlief ein Tuchhändler mit brennender Zigarette im Mund über seiner Ware ein. Er überlebte, doch sein Stand brannte ab. Das Feuer griff auch auf andere Stände, einen Altkleiderladen, ein kleines Möbelgeschäft und eine Bäckerei über.
Hätte der Wind, so hieß es später, eine andere Richtung genommen, wäre Raschids Werkstatt, die am Rand des betroffenen Viertels lag, vielleicht verschont geblieben.
Sie mussten alles verkaufen.
Zuerst wurden Mariams Habseligkeiten veräußert, dann die von Laila, ebenso Azizas Säuglingskleidung und die wenigen Spielzeuge, die Raschid ihr auf Lailas Drängen hin gekauft hatte. Aziza fand sich wortlos damit ab. Raschid verkaufte seine Armbanduhr, das alte Transistorradio, seine beiden Krawatten, die Schuhe und den Ehering. Trennen mussten sie sich auch von Couch und Tisch, dem Teppich und den Stühlen. Zalmai wütete wie wild, als Raschid den Fernseher verkaufte.
Nach dem Feuer ging Raschid kaum mehr aus dem Haus. Er schlug Aziza. Er trat Mariam. Er warf mit Gegenständen um sich. Er mäkelte an Laila herum, an der Art, wie sie sich kleidete und frisierte. Er beschwerte sich über ihren Körpergeruch und die gelb gewordenen Zähne.
»Was ist aus dir geworden?«, knurrte er. »Ich habe eine pari geheiratet, bin aber jetzt mit einer Vettel gestraft. Du stehst Mariam in nichts mehr nach.«
Er verlor eine Anstellung in einem Kebab-Haus am Hadschi-Jakob-Platz, weil sich ein Gast über seine unfreundliche Bedienung beschwert hatte, worauf es zu einer handfesten Auseinandersetzung gekommen war. Raschid hatte ihn als usbekischen Affen beschimpft. Eine Pistole war gezogen, ein Bratspieß gezückt worden. Raschid behauptete später, dass er den Bratspieß in der Hand gehalten habe. Mariam zweifelte daran.
Er kellnerte in einem Restaurant in Taimani, wo er sich aber auch nicht lange halten konnte, weil die Kundschaft klagte, viel zu lange aufs Essen warten zu müssen. Raschid behauptete, der Koch sei zu langsam und zu faul.
»Wahrscheinlich hast du in irgendeiner Ecke gehockt und gedöst«, bemerkte Laila.
»Provozier ihn nicht, Laila jo«, sagte Mariam.
»Sieh dich vor, Frau«, blaffte er.
»Entweder gedöst oder geraucht.«
»Ich warne dich nicht noch einmal.«
»Von dir ist wahrhaftig nichts anderes zu erwarten.«
Und dann fiel er über sie her, prügelte mit Fäusten auf sie ein, riss ihr an den Haaren und schleuderte sie gegen die Wand. Weinend zerrte Aziza an seinem Hemd; auch Zalmai weinte und versuchte, ihn von seiner Mutter wegzuziehen. Raschid stieß die Kinder beiseite, warf Laila zu Boden und trat ihr in den Leib. Mariam versuchte, Laila mit ihrem eigenen Körper zu schützen, doch er trat weiter, blind in seiner Wut, mit Schaum vorm Mund und irrem Blick. Er trat, bis er nicht mehr konnte.
»Du legst es noch darauf an, dass ich dich umbringe, Laila«, schnaubte er keuchend und rannte aus dem Haus.
Das Geld ging aus. Sie hatten nichts mehr zu essen. Alles drehte sich nur noch darum, den Hunger zu stillen.
Wenn es hoch kam, gab es gekochten Reis, ohne jede Zutat. Immer häufiger mussten sie auf eine Mahlzeit verzichten. Manchmal brachte Raschid eine Dose Ölsardinen und trockenes Brot mit nach Hause, das wie Sägemehl schmeckte. Manchmal stahl er Äpfel und riskierte, dafür die Hand abgehackt zu bekommen. In Lebensmittelläden ließ er heimlich eine Dose Ravioli in der Tasche verschwinden, deren Inhalt dann durch fünf geteilt wurde; Zalmai bekam jedes Mal die größte Portion. Sie aßen rohe Rüben, mit einer Prise Salz gewürzt, welke Salatblätter und schwarze Bananen.
An Unterernährung zu sterben wurde zur realen Gefahr. Viele mochten auf einen solchen Tod nicht lange warten. Mariam hörte von einer Witwe aus der Nachbarschaft, die trockenes Brot zerrieben, mit Rattengift vermischt und all ihren sieben Kindern zu essen gegeben hatte. Zuletzt nahm sie selbst davon.
Bei Aziza zeichneten sich die Rippen unter der Haut ab; die runden Wangen fielen ein. Die Waden schrumpften, und ihre Haut nahm die Farbe dünnen Tees an. Wenn Mariam sie auf den Arm nahm, spürte sie die hervortretenden Hüftknochen. Zalmai lag mit stumpfen, halb geschlossenen Augen und schlaffen Gliedern am Boden oder auf dem Schoß seines Vaters. Wenn er genug Kraft dazu hatte, weinte er sich in den Schlaf, doch der Schlaf war gestört und ohne erholsame Wirkung. Sooft sich Mariam erhob, tanzten ihr weiße Funken vor den Augen. Ihr schwindelte, und in den Ohren rauschte es unablässig. Sie erinnerte sich, was Mullah Faizullah zu Beginn eines jeden Ramadan über den Hunger gesagt hatte: »Auch wer von einer Schlange gebissen wurde, kann schlafen, nicht aber der, der hungert.«
»Meine Kinder liegen im Sterben«, jammerte Laila. »Und ich muss tatenlos zusehen.«
»Nein«, sagte Mariam. »Dazu kommt es nicht. Mach dir keine Sorgen, Laila jo. Ich werde es zu verhindern wissen.«
An einem brütend heißen Tag zog sich Mariam ihre Burka über und ging, von Raschid begleitet, zum Hotel Intercontinental — zu Fuß, denn das Geld für eine Busfahrkarte konnten sie nicht aufbringen. Der Weg dorthin führte über einen steilen Anstieg. Von heftigen Schwindelanfällen geplagt, war Mariam immer wieder gezwungen, zu pausieren, um sich zu erholen. Völlig erschöpft erreichte sie schließlich ihr Ziel.
Vor dem Hoteleingang steuerte Raschid auf einen der Türsteher zu, die burgunderrote Livree und eine Schirmmütze trugen. Die beiden begrüßten sich mit einer Umarmung und wechselten ein paar Worte miteinander. Raschid deutete zwischendurch auf Mariam und machte den anderen auf sie aufmerksam. Ihr kam der Livrierte irgendwie bekannt vor.