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Er verschwand dann im Foyer. Mariam und Raschid warteten. Von der Stelle, an der sie stand, konnte Mariam das Polytechnische Institut sehen, dahinter das alte Stadtviertel Khair khana und die Straße nach Mazar. Im Süden zeigte sich die leer stehende Brotfabrik Silo; in der blassgelben Fassade klafften tiefe Einschusslöcher. Weiter südlich erkannte Mariam die Ruine des Darulaman-Palastes, in dessen Garten sie und Raschid vor vielen Jahren gepicknickt hatten. Die Erinnerung an diesen Tag erschien ihr wie das Relikt einer Vergangenheit, mit der sie nichts mehr zu tun hatte.

Mariam konzentrierte sich auf diese Dinge, diese Wahrzeichen, denn sie fürchtete, ihren Mut zu verlieren, wenn sie eigenen Gedanken nachhing.

In kurzen Abständen fuhren Jeeps und Taxis vor. Türsteher eilten den Neuankömmlingen entgegen. Es waren durchweg bewaffnete bärtige Männer mit Turban und bedrohlich selbstsicherem Auftreten. Wenn sie an ihr vorbeikamen, schnappte sie ein paar Brocken auf. Die meisten sprachen Paschto oder Farsi, aber Mariam hörte auch Worte auf Urdu und Arabisch.

»Unsere wahren Herren«, flüsterte Raschid. »Pakistani und arabische Islamisten. Die Taliban sind nur deren Handlanger. Das da sind die eigentlichen Spieler, und Afghanistan ist ihr Spielfeld.«

Raschid erklärte, gehört zu haben, dass diese Leute im ganzen Land mit Wissen der Taliban geheime Lager unterhielten, in denen junge Männer zu Selbstmordattentätern und Dschihad-Kämpfern ausgebildet würden.

»Warum braucht er so lange?«, fragte Mariam.

Raschid spuckte auf den Boden und scharrte mit dem Fuß Dreck über seinen Auswurf.

Eine Stunde später winkte sie der Türsteher durchs Portal. Ihre Absätze klapperten auf den Bodenfliesen einer angenehm kühlen Vorhalle. Mariam sah zwei Männer in ledernen Sesseln sitzen, zwischen ihnen ein niedriger Tisch, auf dem sie ihre Gewehre abgelegt hatten. Sie tranken schwarzen Tee und aßen in Sirup getränkte und mit Puderzucker bestreute jelabi-Kringel. Mariam dachte an Aziza, die jelabi liebte, und wandte den Blick ab.

Der Türsteher führte sie auf einen Balkon. Er zog ein kleines schwarzes schnurloses Telefon und ein Stück Papier aus der Tasche, auf dem eine Telefonnummer geschrieben stand. Darüber lasse sich sein Vorgesetzter auf dessen Satellitentelefon erreichen, sagte er Raschid.

»Ich gebe dir fünf Minuten«, sagte er. »Mehr nicht.«

»Tashakor«, dankte Raschid. »Das werde ich dir nicht vergessen.«

Der Türsteher nickte und zog sich zurück. Raschid wählte und reichte Mariam das Telefon.

Mariam lauschte dem blechernen Rufzeichen und dachte an jenen Tag vor dreizehn Jahren im Frühjahr 1987 zurück, an dem sie Jalil zum letzten Mal gesehen hatte. Er hatte, auf einen Stock gestützt, vor ihrem Haus gestanden, neben einem blauen Mercedes mit Herater Kennzeichen und weißem Mittelstreifen auf Motorhaube, Dach und Heck. Drei Stunden lang stand er dort, rief immer wieder ihren Namen und wartete, so wie sie einmal vor seinem Haus gewartet hatte. Sie hielt sich hinter dem Vorhang versteckt, lugte durch einen winzigen Spalt und sah, dass sein Haar schütter und weiß geworden war. Er hielt sich ein wenig gebückt, trug Brille und wie immer eine rote Krawatte sowie ein weißes Taschentuch in der Brusttasche. Vor allem fiel ihr auf, dass er dünner geworden war, sehr viel dünner; er schien in seinem dunkelbraunen Anzug zu verschwinden.

Jalil hatte sie offenbar gesehen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Ihre Blicke waren einander begegnet, wieder, wie schon vor vielen Jahren, zwischen einem Spalt im Vorhang. Mariam war ihm ausgewichen, hatte sich aufs Bett gesetzt und darauf gewartet, dass er wegfuhr.

Er hatte einen Brief für sie vor der Tür zurückgelassen. Daran dachte sie jetzt. Sie hatte ihn tagelang unter ihrem Kissen versteckt gehalten, manchmal hervorgezogen und hin und her gewendet, am Ende aber ungeöffnet zerrissen.

Und nach all den Jahren versuchte sie nun, Jalil anzurufen.

Mariam bedauerte, ihm die Tür nicht geöffnet zu haben. Was hätte es geschadet, ihn hereinzubitten und erklären zu lassen, was er auf dem Herzen hatte? Er war ihr Vater. Zugegeben, kein guter Vater, aber im Vergleich zu Raschids Bösartigkeit oder der Brutalität und Gewalt, mit der sich andere Männer bekriegten, erschienen ihr Jalils Fehler nun durchaus verzeihlich.

Sie wünschte, sie hätte den Brief nicht zerrissen.

Eine tiefe Männerstimme meldete sich am Telefon und informierte Mariam darüber, dass sie mit dem Bürgermeisteramt in Herat verbunden war.

Mariam räusperte sich. »Salaam, Bruder, ich suche nach einem bestimmten Einwohner von Herat. Jedenfalls hat er vor vielen Jahren dort gelebt. Sein Name ist Jalil Khan. Er wohnte in Shar-e-Nau und war Besitzer eines Kinos. Wissen Sie zufällig, wo er sich heute aufhalten könnte?«

Der Mann am anderen Ende war hörbar irritiert. »Deshalb rufen Sie im Bürgermeisteramt an?«

Mariam antwortete, dass sie nicht wisse, an wen sie sich sonst wenden könne. »Verzeihen Sie, Bruder. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sehr beschäftigt sind, aber in meinem Fall geht es um Leben und Tod. Deshalb rufe ich an.«

»Ich kenne diesen Mann nicht. Das Kino ist vor vielen Jahren geschlossen worden.«

»Wüssten Sie vielleicht jemanden, der ihn kennen könnte, eine Person, die…«

»Da ist niemand.«

Mariam schloss die Augen. »Bitte, Bruder. Es geht vor allem um Kinder. Kleine Kinder.«

Ein langer Seufzer.

»Vielleicht kann jemand…«

»Ich glaube, unser Hausmeister hat immer schon in Herat gelebt.«

»Ja, fragen Sie ihn, bitte.«

»Rufen Sie morgen wieder an.«

Mariam sagte, dass das unmöglich sei. »Ich habe dieses Telefon nur für fünf Minuten. Ein zweites Mal…«

Es klickte am anderen Ende, und Mariam fürchtete schon, dass die Verbindung abgebrochen war. Doch dann hörte sie Schritte und Stimmen, eine Autohupe aus der Ferne und ein von regelmäßigen Quietschlauten unterbrochenes Surren, vielleicht von einem elektrischen Ventilator. Sie legte den Hörer ans andere Ohr und schloss die Augen.

Sie stellte sich Jalil vor, wie er lächelnd in seine Jackentasche griff.

Ab. Natürlich. Verstehe. Also dann…

Eine Kette mit herzförmigem Anhänger, an dem winzig kleine Münzen hingen, in die Mond und Sterne eingraviert waren.

Probier sie mal an, Mariam jo.

Wie steht sie mir?

Ich finde, du siehst aus wie eine Königin.

Nach zwei oder drei Minuten waren wieder Schritte zu hören, ein Knarren, ein Klicken. »Er kennt ihn.«

»Wirklich?«

»Das behauptet er jedenfalls.«

»Wo ist er?«, fragte Mariam. »Weiß dieser Mann, wo sich Jalil Khan aufhält?«

Es entstand eine kurze Pause. »Er sagt, dass er schon vor Jahren gestorben ist. 1987.«

Mariam stockte der Atem. Natürlich hatte sie an diese Möglichkeit gedacht. Jalil wäre inzwischen weit über siebzig, aber…

1987.

Er hatte also damals nicht mehr lange zu leben gehabt und war den ganzen Weg von Herat gekommen, um sich zu verabschieden.

Sie trat an den Rand des Balkons. Von dort oben konnte sie den einstmals berühmten Swimmingpool des Hotels sehen, der jetzt leer und verschmutzt war, voller Einschusslöcher und Scherben zerplatzter Fliesen. Dahinter lag ein heruntergekommener Tennisplatz, das zerrissene Netz am Boden wie eine abgestreifte Schlangenhaut.