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»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte die Stimme am anderen Ende.

»Entschuldigen Sie nochmals die Störung«, erwiderte Mariam lautlos weinend. Sie sah Jalil, wie er ihr zuwinkte und über die Steine im Fluss hüpfte, die Taschen voller Geschenke. Sie hatte jedes Mal den Atem angehalten und Gott darum gebeten, dass sie mehr Zeit mit ihm würde verbringen dürfen. »Danke«, sagte Mariam, doch der Mann am anderen Ende hatte bereits aufgelegt.

Raschid sah sie an. Sie schüttelte den Kopf.

»Zu nichts zu gebrauchen«, brummte er und riss ihr das Telefon aus der Hand. »Wie die Tochter, so der Vater.«

In der Lobby eilte Raschid auf die inzwischen frei gewordene Sitzgruppe mit dem Teetisch zu und steckte sich einen übrig gebliebenen jelabi-Kringel in die Tasche. Er würde ihn mit nach Hause nehmen und Zalmai geben.

42

Laila

Aziza packte folgende Gegenstände in eine Papiertasche: ihr geblümtes Hemd und das einzige Paar Socken, die nicht zueinander passenden Wollhandschuhe, eine alte, mit Sternen und Kometen gemusterte sandfarbene Decke, einen zerkratzten Plastikbecher, eine Banane und ihre Würfel.

Es war ein kalter Morgen im April 2001, kurz nach Lailas dreiundzwanzigstem Geburtstag. Der Himmel war grau, und ein feuchtkalter Wind rüttelte in Böen an der Fliegengittertür.

Vor wenigen Tagen hatte Laila erfahren, dass Ahmad Schah Massoud nach Frankreich geflogen war, um vor dem Europäischen Parlament zu reden. Massoud hatte sich in den Norden, seine Heimat, zurückgezogen, wo er die Nordallianz anführte, die einzig verbliebene Oppositionsgruppe, die den Taliban die Stirn bot. In Europa hatte Massoud den Westen vor Ausbildungslagern für Terroristen in Afghanistan gewarnt und die Vereinigten Staaten eindringlich gebeten, ihn im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen.

»Wenn uns Präsident Bush nicht hilft«, hatte er gesagt, »werden diese Terroristen bald auch den Vereinigten Staaten und Europa großen Schaden zufügen.«

Einen Monat zuvor war Laila zu Ohren gekommen, dass die Taliban die riesigen Buddhas in Bamiyan, die von ihnen als sündhafte Götzenbildnisse bezeichnet wurden, zerstört hatten. Von Amerika bis China war ein Aufschrei der Empörung zu hören gewesen. Staatsmänner, Historiker und Archäologen der ganzen Welt hatten die Taliban in Briefen aufgefordert, diese beiden größten noch existierenden Kulturschätze Afghanistans zu schonen. Doch davon unbeeindruckt, hatten die Taliban die zweitausend Jahre alten Buddhas mit Sprengladungen bespickt, jede Explosion mit Allah-u-akbar-Rufen gefeiert und gejubelt, sooft Teile eines Arms oder Beins der Statuen in einer Wolke aus Staub zerfielen. Laila erinnerte sich, 1987 mit Babi und Tarik bei strahlendem Sonnenschein und von einer sanften Brise umweht auf dem größten der beiden Buddhas gestanden und einen Falken beobachtet zu haben, der hoch über dem Tal seine Kreise zog. Die Nachricht von der Zerstörung der Statuen hatte sie jedoch kaltgelassen. Es war für sie nicht von Belang. Was zählten Statuen, wenn das eigene Leben zu Staub zerfiel?

Solange Raschid sie nicht aufforderte zu gehen, hockte Laila in einer Ecke des Wohnzimmers auf dem Boden, schweigend und mit versteinerter Miene, das Haar in zerzauste Fransen aufgelöst. Auch wenn sie noch so tief einzuatmen versuchte, war ihr, als bekäme sie nie ausreichend Luft.

Unterwegs nach Karteh-Seh schaukelte Zalmai auf Raschids Armen, während Mariam Aziza bei der Hand hielt, die sich beeilen musste, um Schritt zu halten. Ein scharfer Wind blies ihnen entgegen und zerrte am Schal, den das Mädchen um den Hals gewickelt hatte. Aziza blickte düster drein; mit jedem Schritt schien sie der Ahnung näher zu kommen, dass sie hinters Licht geführt wurde. Laila hatte nicht den Mut aufgebracht, die Wahrheit zu sagen, und ihr stattdessen vorgespielt, dass sie eine Schule besuchen werde, eine besondere Schule, in der die Kinder zusammen essen und schlafen und nach dem Unterricht nicht nach Hause entlassen würden. Aziza stellte Laila auch jetzt wieder all die Fragen, die sie schon seit Tagen an sie gerichtet hatte. Ob die Kinder denn in verschiedenen Räumen oder in einem großen Saal schliefen. Ob sie damit rechnen könne, Freundschaften zu schließen. Ob die Lehrer auch ganz bestimmt nett seien.

Und immer wieder: »Wie lange soll ich dort bleiben?«

Als sie sich bis auf zwei Blocks ihrem Ziel genähert hatten, blieben sie stehen.

»Zalmai und ich warten hier«, sagte Raschid. »Oh, bevor ich’s vergesse.«

Er holte einen Kaugummi aus der Tasche, ein Abschiedsgeschenk, das er Aziza in steifer Großmutsgeste reichte. Aziza nahm es an und bedankte sich murmelnd. Laila staunte über die Freundlichkeit ihrer Tochter, über deren ungewöhnlich große Nachsicht, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Vor Kummer schnürte sich ihr das Herz zu, und mit Schmerzen dachte sie daran, dass Aziza an diesem Nachmittag nicht neben ihr schlafen würde, dass sie darauf würde verzichten müssen, ihre zarte Hand auf der Brust, ihren Kopf in der Armbeuge, ihren warmen Atem auf der Haut und ihre Füße an den Schenkeln zu spüren.

Als Aziza weggeführt wurde, fing Zalmai zu weinen an. »Ziza! Ziza!«, rief er. Er wand sich in den Armen seines Vaters, strampelte mit den Beinen und rief nach seiner Schwester, bis der Affe eines Leierkastenmanns auf der anderen Straßenseite seine Aufmerksamkeit ablenkte.

Sie gingen die letzten Schritte allein, Mariam, Laila und Aziza. Als sie sich dem Gebäude näherten, sah Laila, dass die Fassade bröckelte, das Dach durchhing und einige der Fenster mit Brettern vernagelt waren. Neben einer baufälligen Mauer stand eine Schaukel.

Vor der Eingangstür angekommen, wiederholte Laila, was sie ihrer Tochter bereits eingeschärft hatte.

»Also, was antwortest du, wenn man dich nach deinem Vater fragt?«

»Dass er von den Mudschaheddin getötet worden ist«, sagte Aziza mit argwöhnischer Miene.

»Gut so. Verstehst du auch, warum, Aziza?«

»Weil das eine besondere Schule ist«, antwortete Aziza. Sie war vollkommen niedergeschlagen. Angesichts des trostlosen Gebäudes ließ sich nichts mehr beschönigen. Ihre Unterlippe zitterte, Tränen stiegen ihr in die Augen. Laila sah, wie schwer sie mit sich ringen musste, um tapfer zu bleiben. »Wenn ich die Wahrheit sagen würde«, fuhr Aziza mit tonloser Stimme fort, »würden sie mich nicht aufnehmen. Es ist eine besondere Schule. Ich will nach Hause.«

»Ich… ich werde dich ganz oft besuchen«, stammelte Laila. »Versprochen.«

»Ich auch«, sagte Mariam. »Wir kommen dich besuchen, Aziza jo. Und dann spielen wir miteinander, so wie immer. Es ist nur für kurze Zeit — bis dein Vater Arbeit gefunden hat.«

»Hier hast du immer genug zu essen«, sagte Laila mit bebender Stimme. Sie war froh, ihre Burka zu tragen, froh darüber, dass Aziza nicht sehen konnte, wie elend ihr zumute war. »Hier wirst du keinen Hunger haben müssen. Es gibt genügend Reis und Brot und Wasser, vielleicht sogar Früchte.«

»Aber du bist nicht da. Und Khala Mariam auch nicht.«

»Ich werde kommen und dich besuchen«, sagte Laila. »Ganz oft. Schau mich an. Aziza. Glaub mir. Ich bin deine Mutter. Ich besuche dich, und wenn es mich das Leben kostet.«

Der Direktor des Waisenhauses war ein gebückter Mann mit schmalen Schultern und freundlichem Gesicht. Er hatte kaum mehr Haare auf dem Kopf, einen zotteligen Bart und Augen wie Erbsen. Sein Name war Zaman. Er trug ein Scheitelkäppchen. Das linke Brillenglas war zersprungen.

Auf dem Weg in sein Büro fragte er die drei nach ihren Namen und erkundigte sich nach Azizas Alter. Sie gingen durch einen spärlich beleuchteten Korridor. Barfüßige Kinder traten zur Seite, um Platz zu machen, und schauten ihnen nach. Denen, die nicht kahlgeschoren waren, standen die Haare zu Berge. Sie trugen Pullover mit durchgescheuerten Ärmeln, Jeans, die an den Knien aufgerissen waren, und mit Klebestreifen geflickte Mäntel. Es roch nach Ammoniak und Urin, Seife und Talkum. Aziza war so verschreckt, dass sie zu wimmern begann.