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»Kommt Aziza diesmal mit, wenn wir nach Hause gehen?«, fragte Zalmai.

»Diesmal noch nicht, aber bald, mein Liebling«, antwortete Laila. »Bald.«

Laila sah ihn auf die Schaukel zugehen. Er bewegte sich wie sein Vater: ein wenig nach vorn gebeugt und die Fußspitzen nach innen gekehrt. Er brachte den leeren Sitz der Schaukel in Schwung, setzte sich dann auf den Betonboden und zupfte Unkraut aus einem Spalt.

»Aus den Blättern verdunstet Wasser, Mami, wusstest du das? So wie aus der Wäsche, die zum Trocknen an der Leine hängt. Und das Wasser steigt in den Bäumen auf, aus der Erde und durch die Wurzeln, durch den Stamm und die Äste bis hin zu den Blättern. Das nennt man Transpiration.«

Laila fragte sich immer wieder, was wohl geschähe, wenn die Taliban Kaka Zaman dabei ertappten, dass er die Kinder heimlich unterrichtete.

Während der Besuche ließ Aziza keinen Moment Ruhe aufkommen. Sie redete unablässig, führte mit hoher, heller Stimme aus, was sie im Unterricht gelernt hatte, und gestikulierte mit hektischen Handbewegungen, die so gar nicht typisch für sie waren. Sie lachte auch anders. Es war im Grunde weniger ein Lachen als ein nervöses Zeichensetzen, mit dem sie sich, wie Laila vermutete, Mut zu machen versuchte.

Auffällig waren auch andere Veränderungen. Laila bemerkte, dass sie immer schmutzige Fingernägel hatte. Wenn Aziza sah, dass ihr die Mutter auf die Finger schaute, beeilte sie sich, die Hände unter den Schenkeln zu verstecken. Wenn einem schreienden Kind der Schnodder auf den Lippen hing oder wenn eines mit bloßem Hinterteil und vor Dreck starrendem Haar an ihnen vorbeikam, verdrehte Aziza die Augen und entschuldigte sich für das Kind. Sie verhielt sich wie eine Gastgeberin, die sich vor ihren Gästen für ihr schmutziges Haus und die ungezogenen Kinder schämte.

Wenn sie gefragt wurde, wie es ihr in diesem Haus ergehe, gab sie jedes Mal eine heitere Antwort, die kaum überzeugen konnte.

»Prima, Khala. Mir geht’s gut.«

Ob sie von den anderen gehänselt werde?

»Nein, Mami. Sie sind alle nett.«

Ob sie genug zu essen bekäme und gut schlafen könne?

»Ja. Gestern Abend gab’s Lammfleisch. Oder war’s letzte Woche? Und schlafen kann ich auch.«

Bei solchen Antworten hörte Laila Mariam aus ihrer Tochter sprechen.

Aziza stotterte, was Mariam als Erste bemerkte. Es war ein leichtes, aber wahrnehmbares Stottern und fiel vor allem bei Wörtern auf, die mit einem T anfingen. Laila sprach Zaman darauf an. Er runzelte die Stirn und sagte: »Ich dachte, das hätte sie immer schon getan.«

An diesem Freitagnachmittag verließen sie mit Aziza das Waisenhaus, um einen Ausflug mit ihr zu unternehmen. Als Zalmai seinen Vater an der Bushaltestelle warten sah, quiekte er vor Vergnügen und wand sich voller Ungeduld in Lailas Armen. Azizas Gruß war knapp, aber nicht unfreundlich. Sie hegte keinen Groll gegen Raschid.

Raschid sagte, sie sollten sich beeilen; er habe nur zwei Stunden Zeit und müsse sich dann an seinem Arbeitsplatz zurückmelden. Er war Anfang der Woche als Portier beim Intercontinental angestellt worden. An sechs Tagen in der Woche musste er von zwölf Uhr mittags bis acht Uhr abends Autotüren aufhalten, Koffer tragen und den Eingangsbereich sauber halten. Nach getaner Arbeit ließ ihn der Koch des Selbstbedienungsrestaurants Essensreste für zu Hause einpacken: kalte, ölige Fleischbällchen, gebratene, ausgetrocknete Hähnchenflügel, von denen die knusprige Haut abgefallen war, verklebte Nudeltaschen oder steif gewordenen Reis. Voraussetzung für die Gefälligkeit war, dass er Stillschweigen darüber bewahrte. Raschid hatte Laila versprochen, dass Aziza nach Hause zurückkommen könne, sobald er etwas Geld angespart habe.

Er trug seine Livree, einen burgunderroten Anzug aus Polyester, ein weißes Hemd, eine Ansteckkrawatte und eine Schirmmütze, gegen die sich sein weißes Kraushaar sträubte. In dieser Uniform war Raschid wie ausgewechselt und kaum wiederzuerkennen. Er wirkte darin verletzlich und verwirrt, geradezu erbärmlich und harmlos, wie jemand, der die entwürdigenden Zumutungen, die das Leben für ihn bereithielt, ohne jeden Protest hinnahm und in seiner Fügsamkeit lächerlich und bewundernswert zugleich war.

Mit dem Bus fuhren sie zur sogenannten Titanic City, jenem wild auswuchernden Markt, wo sich zu beiden Seiten des ausgetrockneten Flussbettes ein provisorischer Verkaufsstand an den anderen reihte. Nahe der Brücke hing unter einem Kranausleger ein Toter mit abgeschnittenen Ohren und gebrochenem Genick an einem Seil. Unmittelbar daneben führten die Treppenstufen entlang, auf denen Raschid und seine Familie die Uferböschung hinabstiegen. Unten im Wadi erwartete sie ein Gewimmel von Menschen, Käufern und Verkäufern, Geldwechslern und Spendensammlern, Zigarettenhändlern und verschleierten Frauen, die gefälschte Rezepte für Antibiotika feilboten und um Almosen bettelten. Naswar kauende Taliban passten mit gezückten Peitschen darauf auf, dass niemand unanständig lachte und keine Frau den Schleier lüftete.

Zwischen einem Händler von poosteen-Mänteln und einem Stand mit künstlichen Blumen entdeckte Zalmai einen Kiosk voller Spielzeug und griff zielstrebig nach einem Basketball mit gelben und blauen Wirbelmustern.

»Such dir auch was aus«, sagte Raschid zu Aziza.

Aziza reagierte sichtlich verlegen und zögerte.

»Beeilung. Ich muss in einer Stunde wieder arbeiten.«

Aziza deutete auf die Spielzeugversion eines Kaugummiautomaten voller Süßigkeiten, die sich nach dem Einwurf einer Spielmarke Stück für Stück entnehmen ließen.

Raschid kniff die Brauen zusammen, als der Händler ihm den Preis nannte. Nachdem die beiden eine Weile gefeilscht hatten, wandte sich Raschid an Aziza und herrschte sie an, als wäre sie es, die ihn zu übervorteilen versuchte. »Nach dem Ball kann ich mir das nicht auch noch leisten.«

Auf dem Rückweg wurde Aziza immer schweigsamer und ernster, je näher sie dem Waisenhaus kamen. Es war nun an Laila und Mariam, das Gespräch in Gang zu halten, angestrengt zu lachen und die gedrückte Stimmung zu heben.

Als sich Raschid von ihnen getrennt hatte und in einen Bus gestiegen war, um zur Arbeit zu gelangen, nahmen auch Laila, Mariam und Zalmai von Aziza Abschied. Laila sah, wie sich Aziza, nachdem sie ihnen noch einmal nachgewinkt hatte, mit eingezogenen Schultern an der Mauer des Hinterhofes vorbeidrückte. Sie dachte an Azizas Stottern und auch an das, was sie über Verwerfungen und die mächtigen Kollisionen im Erdinnern gesagt hatte, von denen man an der Oberfläche manchmal nur ein leichtes Zittern wahrnehmen konnte.

»Geh weg, du!«, zeterte Zalmai.

»Ruhig«, sagte Mariam. »Wen meinst du mit deinem Geschrei?«

Er streckte die Hand aus. »Da. Der Mann.«

Laila folgte mit dem Blick und sah einen Mann vorm Haus, der an der Eingangstür lehnte. Als er sie kommen sah, richtete er sich auf und kam ein paar Schritte auf sie zugehinkt.

Laila erstarrte.

Ihr war, als schnürte sich ihr die Kehle zu. Die Knie drohten unter ihr wegzuknicken. Es drängte sie danach, sich an Mariam anzulehnen und festzuklammern, aber sie tat es nicht. Sie wagte es nicht. Sie wagte es nicht, sich zu rühren, Luft zu holen oder auch nur mit der Wimper zu zucken, aus Angst, dass sie nur einem Trugbild aufsaß, einer flüchtigen Illusion, die sich bei der kleinsten Erschütterung auflösen würde. Sie stand wie angewurzelt da und blickte Tarik entgegen, bis ihre Brust nach Luft schrie und die Augen zu brennen anfingen. Und als sie endlich Atem schöpfte und mit den Augen blinzelte, stand er wundersamerweise immer noch an derselben Stelle. Es war tatsächlich Tarik, der da vor ihrer Haustür stand.

Laila ging einen Schritt auf ihn zu. Einen zweiten. Noch einen. Und dann rannte sie.

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