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Mariam

Zalmai tollte ausgelassen in Mariams Zimmer umher und ließ seinen neuen Ball auf den Boden und gegen die Wände prallen. Mariam bat ihn, damit aufzuhören, obwohl ihr klar war, dass er nicht auf sie hören würde. Er spielte weiter mit dem Ball und warf ihr trotzige Blicke zu. Schließlich gelang es ihr, ihn mit einem Spielzeugauto abzulenken, einem Krankenwagen mit roter Aufschrift auf den Seiten, den sie auf dem Zimmerboden zwischen sich hin und her stießen.

Als sie vor der Tür mit Tarik zusammengetroffen waren, hatte Zalmai seinen Basketball an die Brust gepresst und einen Daumen in den Mund gesteckt, was er für gewöhnlich nicht mehr tat, außer er war ängstlich. Er hatte Tarik misstrauisch beäugt.

»Wer ist der Mann?«, fragte er jetzt. »Ich mag ihn nicht.«

Mariam versuchte zu erklären, dass er mit Laila aufgewachsen war, doch Zalmai schnitt ihr das Wort ab und sagte, sie solle den Krankenwagen herumdrehen, so dass der Kühlergrill auf ihn zeige, und kaum hatte sie seinem Wunsch entsprochen, wollte er wieder mit dem Basketball spielen.

»Wo ist er?«, fragte er. »Wo ist der Ball, den mir Baba jan geschenkt hat? Wo? Ich will ihn haben!« Seine Stimme wurde von Wort zu Wort schriller.

»Gerade war er noch hier«, antwortete Mariam, und er schrie: »Jetzt ist er nicht mehr da. Er ist weg. Wo ist er?«

»Hier«, sagte sie und holte den Ball aus der Ecke, wohin er gerollt war. Zalmai aber mochte sich nicht beruhigen, schlug mit den Fäusten auf den Boden und brüllte, dass dies der falsche Ball sei, weil der richtige verloren gegangen wäre, und den wolle er wiederhaben. »Wo, wo, wo?«, schrie er in einem fort.

Er schrie so laut, dass Laila nach oben kam und ihn auf den Arm nahm. Sie schaukelte ihn, fuhr mit den Fingern durch seine dunklen Locken, trocknete die Tränen von seinen Wangen und schnalzte sanft mit der Zunge.

Mariam wartete unterdessen vor der Tür. Vom oberen Treppenabsatz konnte sie von Tarik, der im Wohnzimmer saß, nur dessen lange Beine sehen, das eigene und die Prothese. Er trug eine staubgraue Leinenhose und hatte die Beine ausgestreckt. Plötzlich fiel ihr eine Erklärung dafür ein, warum ihr der Türsteher vor dem Intercontinental bekannt vorgekommen war. Hätte er an diesem Tag weder Sonnenbrille noch Mütze getragen, wäre sie sofort darauf gekommen. Mariam erinnerte sich, wie dieser Mann vor gut neun Jahren unten im Wohnzimmer gesessen, seine Stirn mit einem Taschentuch betupft und um Wasser gebeten hatte. Fragen über Fragen gingen ihr jetzt durch den Kopf. Waren die Pillen, die er angeblich schlucken musste, womöglich auch nur Requisiten des abgekarteten Spiels gewesen? Wer von den beiden hatte sich die Lüge ausgedacht und mit überzeugenden Einzelheiten ausgeschmückt? Und wie viel hatte Raschid diesem Abdul Shafir, falls er denn so überhaupt hieß, bezahlt, damit dieser ins Haus kam und Laila mit der Geschichte von Tariks Tod das Herz brach?

44

Laila

Tarik berichtete von einem Mithäftling, dessen Vetter öffentlich ausgepeitscht worden war, weil er Flamingos malte. Er, dieser Vetter, hatte anscheinend eine ausgeprägte Vorliebe für diese Tiere.

»Ganze Skizzenbücher hatte er damit gefüllt«, sagte Tarik. »Dutzende von Ölgemälden, auf denen sie in Scharen durch Lagunen waten oder in Marschlandschaften sonnenbaden. Ich fürchte, er hat auch welche gemalt, die dem Sonnenuntergang entgegensegeln.«

»Flamingos«, wiederholte Laila, die Augen auf Tarik gerichtet, der an der Wand hockte und sein gesundes Bein angewinkelt hatte. Es drängte sie wieder, ihn in die Arme zu nehmen, wie es sie auch schon vor der Tür gedrängt hatte, als sie auf ihn zugelaufen war. Es war ihr peinlich, daran zu denken, wie sie sich ihm an die Brust geworfen, geweint und mit schluchzender Stimme immer und immer wieder seinen Namen gestammelt hatte. War sie womöglich zu überschwänglich gewesen, fragte sie sich. Vielleicht. Aber sie hatte sich einfach nicht zurückhalten können. Und jetzt sehnte sie sich wieder danach, ihn zu berühren, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass er nicht bloß ein Traum, eine Erscheinung war, sondern in Fleisch und Blut vor ihr saß.

»In der Tat«, murmelte Tarik.

Die Taliban, so sagte er, hätten Anstoß genommen an den langen nackten Beinen der Vögel. Man hatte dem Maler die gefesselten Füße blutig geschlagen und ihn vor die Wahl gestellt, entweder seine Gemälde zu vernichten oder die Flamingos auf züchtige Weise darzustellen. Daraufhin hatte er zum Pinsel gegriffen und jedem einzelnen Vogel Hosen gemalt.

»Das gibt’s nun also auch, Islamische Flamingos«, frotzelte Tarik.

Laila hätte laut auflachen mögen, hielt sich aber zurück. Sie schämte sich ihrer gelben Zähne und für den fehlenden Schneidezahn, ebenso auch wegen ihres gealterten Gesichts und der geschwollenen Lippen. Sie bedauerte, keine Gelegenheit gehabt zu haben, sich zu waschen oder wenigstens die Haare zu kämmen.

»Aber er wird zuletzt lachen, dieser Maler«, sagte Tarik. »Er hat nämlich für die Hosen Wasserfarben verwendet. Wenn die Taliban weg sind, wird er die Bilder nur abzuwaschen brauchen.« Er lächelte, und Laila bemerkte, dass auch ihm ein Zahn fehlte. Er schaute auf seine Hände. »In der Tat.«

Er hatte einen pakol auf dem Kopf, trug Wanderstiefel und einen schwarzen Wollpullover, den er unter den Bund der grauen Leinenhose gestopft hatte. Er deutete ein Lächeln an und nickte bedächtig. Laila konnte sich nicht erinnern, dass er früher so häufig »in der Tat« gesagt hätte; auch die nachdenkliche Art, mit der er die Fingerspitzen aneinanderlegte und nickte, erschien ihr neu an ihm. Ja, Tarik war jetzt erwachsen, ein fünfundzwanzigjähriger Mann mit langsamen Bewegungen und einem müden Lächeln, groß gewachsen, bärtig, schlanker als in ihren Träumen von ihm, aber mit kräftigen Händen, den Händen eines Arbeiters, auf denen sich pralle Venen abzeichneten. Sein Gesicht war immer noch schmal und hübsch, die Haut allerdings nicht mehr so hell. Die Sonne hatte ihm zugesetzt; Nacken, Stirn und Wangen waren dunkelbraun gebrannt wie bei einem Wanderer am Ende einer langen, beschwerlichen Reise. Sein pakol war nach hinten gerutscht, und sie sah, dass das Haar nicht mehr ganz so dicht war wie früher. Die haselnussbraunen Augen schienen an Glanz verloren zu haben, was aber auch am Licht im Wohnzimmer liegen mochte.

Laila dachte an Tariks Mutter, an ihre Gelassenheit, das verschmitzte Lächeln und die stumpfe violette Perücke. Und an seinen Vater, der immer mit den Augen geblinzelt hatte, an seinen trockenen Humor. Vor der Tür hatte sie Tarik mit tränenerstickter Stimme und gestammelten Worten erklärt, was ihr über ihn und seine Eltern zu Ohren gekommen war, worauf er kopfschüttelnd geantwortet hatte, dass von alldem nichts wahr sei. Also fragte sie ihn jetzt, wie es seinen Eltern gehe, bereute aber sogleich, die Frage gestellt zu haben, denn Tarik blickte betreten zu Boden und sagte leise: »Sie sind gestorben.«

»Das tut mir leid.«

»Tja. Mir auch. Hier, sieh mal.« Er zog eine kleine Papiertüte aus der Tasche und gab sie ihr. »Mit herzlichen Grüßen von Alyona.« In der Tüte befand sich ein Käsestück, in Folie einwickelt.

»Alyona. Ein hübscher Name.« Laila versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Deine Frau?«

»Meine Ziege.« Er lächelte und sah sie erwartungsvoll an.

Da erinnerte sie sich. Der russische Film. Alyona war die Tochter des Kapitäns gewesen, das Mädchen, das sich in den ersten Offizier verliebt hatte. Am Morgen vor dem gemeinsamen Kinobesuch hatten sie die sowjetischen Panzer und Jeeps aus Kabul abziehen sehen; Tarik trug damals diese groteske russische Pelzmütze auf dem Kopf.

»Ich habe ihr ein Gehege gebaut«, sagte Tarik. »Wegen der Wölfe. Das Bergland, in dem ich wohne, hat ausgedehnte Wälder, vor allem aus Kiefern, aber auch Fichten und Zedern. Da halten sie sich meist auf, aber frei laufende Ziegen locken sie auch ins Freie. Darum das Gehege.«